Leo Trotzki

 

Über den Terror

(1911)


Zuerst veröffentlicht in Der Kampf, theoretischer Zeitschrift der österreichischen Sozialdemokratie, November 1911.
Vielen Dank an Linksruck für das Erlaubnis, diesen Text aus seiner Klassiker-Reihe zu kopieren.


Unsere Klassenfeinde pflegen sich über unseren Terrorismus zu beklagen. Was sie damit meinen, ist ziemlich unklar. Gern würden sie alle Aktivitäten des Proletariats, die gegen die Interessen des Klassenfeindes gerichtet sind, als Terrorismus abstempeln. In ihren Augen ist der Streik das Hauptmittel des Terrorismus. Die Drohung mit Streik, die Organisation von Streikposten, der ökonomische Boykott eines Sklaventreibers, der moralische Boykott eines Verräters aus unseren eigenen Reihen – dies alles und noch viel mehr nennen sie Terrorismus. Wenn Terrorismus verstanden wird als jede Aktion, die den Feind mit Schrecken erfüllt und ihm schadet, dann ist der gesamte Klassenkampf natürlich nichts anderes als Terrorismus. Und die einzige Frage bleibt, ob die bürgerlichen Politiker das Recht haben, kübelweise moralische Entrüstung über den proletarischen Terrorismus auszugießen, wenn ihr ganzer Staatsapparat mit seinen Gesetzen, seiner Polizei, seiner Armee nichts anderes als ein Apparat für kapitalistischen Terror ist!

Doch wenn sie uns Terrorismus vorwerfen, versuchen sie – wenngleich nicht immer bewußt – diesem Wort eine engere, bestimmtere Bedeutung zu geben. Die Beschädigung von Maschinen durch Arbeiter beispielsweise ist Terrorismus in diesem strengen Sinne des Wortes. Die Tötung eines Unternehmers, die Drohung, eine Fabrik anzustecken, die Bedrohung eines Besitzers mit dem Tod, ein Mordversuch mit dem Revolver in der Hand an einen Minister: all dies sind terroristische Akte im eigentlichen Sinn. Trotzdem: jeder, der eine Vorstellung von der wahren Natur der internationalen Sozialdemokratie [1] hat, sollte wissen, daß sie immer diese Art von Terrorismus bekämpft hat, und zwar auf die unversöhnlichste Weise. Warum? „Terrorisieren“ mit der Drohung eines Streiks, oder tatsächlich einen Streik führen, ist etwas, das nur Industrie- oder Landarbeiter können. Die soziale Bedeutung eines Streiks hängt erstens direkt ab von der Größe des Betriebes oder der Industriebranche, die er in Mitleidenschaft zieht; und zweitens, inwieweit die Arbeiter, die sich daran beteiligen, organisiert, diszipliniert und bereit zum Handeln sind. Dieses gilt sowohl für den politischen als auch für den ökonomischen Streik.

Er bleibt die Kampfmethode, die direkt aus der schöpferischen Rolle des Proletariats in der modernen Gesellschaft herrührt.

Um sich zu entwickeln, braucht das kapitalistische System einen parlamentarischen Überbau. Aber weil es das moderne Proletariat nicht in ein politisches Ghetto sperren kann, muß es früher oder später den Arbeitern erlauben, sich am Parlament zu beteiligen. In den Wahlen drückt sich der Massencharakter des Proletariats und sein Grad an politischer Entwicklung aus – Eigenschaften, die wiederum bestimmt sind von seiner sozialen, d.h. vor allem von seiner produktiven Rolle.

Wie in einem Streik, so hängt auch in Wahlen Methode, Ziel und Ergebnis des Kampfes immer von der sozialen Rolle und Stärke des Proletariats als Klasse ab.

Nur die Arbeiter können einen Streik durchführen. Handwerker, die von der Fabrik ruiniert sind, Kleinbauern, denen die Fabrik das Wasser vergiftet oder Lumpenproletarier auf der Suche nach Beute, können Maschinen zerschlagen, eine Fabrik in Brand setzen oder ihren Besitzer ermorden.

Nur die bewußte und organisierte Arbeiterklasse kann eine starke Vertretung in die Parlamentsgebäude schicken, um für die proletarischen Interessen einzutreten. Um jedoch einen prominenten Staatsdiener zu ermorden, braucht man nicht die organisierten Massen hinter sich zu haben. Die Rezepte für Sprengstoffe sind allen zugänglich, und einen Browning kann man überall bekommen.

Im ersten Fall ist es ein sozialer Kampf, dessen Methoden und Mittel notwendigerweise aus der Natur der herrschenden sozialen Ordnung herrühren; im zweiten eine rein mechanische Reaktion, die überall gleich ist – in China wie in Frankreich – sehr auffällig in ihrer äußeren Form (Mord, Explosion usw.), aber vollkommen harmlos, was den Bestand der sozialen Ordnung angeht.

Ein Streik, sogar von mäßigem Umfang, hat soziale Konsequenzen: Stärkung des Selbstvertrauens der Arbeiter, Anwachsen der Gewerkschaften, und nicht selten sogar ein Fortschritt in der Produktionstechnik. Der Mord an einem Fabrikbesitzer bewirkt nur Folgen polizeilicher Natur, oder einen Wechsel der Besitzer, völlig ohne jede soziale Bedeutung. Ob ein terroristischer Anschlag, sogar ein „erfolgreicher“, die herrschende Klasse in Verwirrung stürzt, hängt von den konkreten politischen Umständen ab. In jedem Fall kann die Verwirrung nur kurzlebig sein; der kapitalistische Staat selbst stützt sich nicht auf Minister und kann nicht mit ihnen beseitigt werden. Die Klassen, denen er nützt, werden immer neue Leute finden; der Mechanismus bleibt intakt und funktioniert weiter.

Aber die Verwirrung, die in die Reihen der arbeitenden Massen durch einen terroristischen Anschlag getragen wird, ist viel tiefer. Wenn es ausreicht, sich mit einer Pistole zu bewaffnen, um sein Ziel zu verwirklichen, warum dann die Anstrengungen des Klassenkampfes? Wenn ein bißchen Schießpulver und ein Klumpen Blei ausreicht, dem Feind ins Genick zu schießen, welche Notwendigkeit besteht dann für eine Klassenorganisation? Wenn es sinnvoll ist, eine hochgestellte Persönlichkeit mit dem Lärm von Explosionen zu erschrecken, wo bleibt dann die Notwendigkeit einer Partei? Warum Versammlungen, Massenagitation und Wahlen, wenn man so leicht von der Galerie des Parlaments auf die Ministerbank zielen kann?

Eben deswegen ist individueller Terror in unseren Augen unzulässig: denn er schmälert die Rolle der Massen in ihrem eigenen Bewußtsein, denn er söhnt sie mit ihrer eigenen Machtlosigkeit aus und richtet ihre Augen und Hoffnungen auf einen großen Rächer und Befreier, der eines Tages kommen wird und seine Mission vollendet. Die anarchistischen Propheten der „Propaganda der Tat“ können soviel sie wollen über den fördernden und stimulierenden Einfluß von terroristischen Akten auf die Massen reden. Theoretische Überlegungen und politische Erfahrung zeigt anderes. Je „effektiver“ Terrorakte sind, je größer ihre Auswirkung ist, desto mehr verringern sie das Interesse der Massen an Selbstorganisation und Selbsterziehung.

Aber der Rauch einer Explosion verzieht sich, die Panik verschwindet, der Nachfolger des ermordeten Ministers tritt in Erscheinung, das Leben verläuft wieder im alten Trott, das Rad der kapitalistischen Ausbeutung dreht sich wie zuvor; nur die Unterdrückung durch die Polizei wird grausamer und dreister. Und als Ergebnis kommen anstatt der erweckten Hoffnungen und der künstlich angestachelten Erregung Desillusion und Apathie.

Die Anstrengungen der Reaktion, Streiks und der massenhaften Bewegung der Arbeiter ein Ende zu setzen, haben immer und überall mit einem Mißerfolg gesendet. Die kapitalistische Gesellschaft braucht ein aktives, bewegliches und intelligentes Proletariat; sie kann deshalb nicht für sehr lange dem Proletariat Hände und Füße binden. Andererseits hat die anarchistische „Propaganda der Tat“ jedesmal gezeigt, daß der Staat viel reicher an physischen Zerstörungsmitteln und technischen Unterdrückungsmitteln ist als die anarchistischen Gruppen.

Wenn das so ist, was ist dann mit der Revolution? Ist sie bei diesem Stand der Dinge unmöglich? Keineswegs. Denn die Revolution ist nicht eine einfache Summe von mechanischen Mitteln. Die Revolution kann nur aus der Verschärfung des Klassenkampfes erwachsen, und eine Garantie für den Sieg kann sie nur in den sozialen Funktionen des Proletariats finden. Der politische Massenstreik, der bewaffnete Aufstand, die Eroberung der Staatsmacht – all dies wird bestimmt vom Grad der Entwicklung der Produktion, der Gruppierung der Klassenkämpfe, der sozialen Bedeutung des Proletariats und schließlich von der sozialen Zusammensetzung der Armee, seit die Streitkräfte in Zeiten der Revolution der Faktor sind, der das Schicksal der Staatsmacht bestimmt.

Die Sozialdemokratie ist realistisch genug, der Revolution, die sich aus der bestehenden historischen Lage entwickelt, nicht auszuweichen; im Gegenteil, sie strebt die Revolution mit vollem Bewußtsein an. Aber – im Gegensatz zu den Anarchisten und im direkten Kampf gegen sie – lehnt die Sozialdemokratie alle Methoden und Mittel ab, die zum Ziel haben, künstlich die Entwicklung der Gesellschaft voranzutreiben und chemische Präparate an die Stelle der ungenügenden revolutionären Stärke des Proletariats zu setzen.

Bevor er auf die Stufe einer Methode des politischen Kampfes gehoben wird, tritt der Terrorismus in Form von individuellen Racheakten in Erscheinung. So war es in Rußland, dem klassischen Land des Terrorismus. Das Auspeitschen von politischen Gefangenen veranlaßte Vera Sassulitsch, [2] das allgemeine Gefühl der Empörung durch die Ermordung von General Trepov auszudrücken. Ihr Beispiel wurde nachgeahmt in den Kreisen der revolutionären Intelligenzia, denen jegliche Massenunterstützung fehlte. Was als ein Akt unbedachter Rache begann, entwickelte sich 1879-1881 zu einem ganzen System. Die Ausbrüche anarchistischer Mordanschläge in Westeuropa und Nordamerika folgten immer, wenn die Regierung eine Greueltat begangen hatte – Erschießung von Streikenden oder Hinrichtungen politischer Gegner. Die wichtigste psychologische Quelle des Terrorismus ist immer das Gefühl der Rache auf der Suche nach einem Ventil.

Es ist nicht notwendig, darauf herumzureiten, daß die Sozialdemokratie nichts gemein hat mit diesen gekauften und bezahlten Moralisten, die als Antwort auf jeden terroristischen Akt feierliche Deklamationen über den „absoluten Wert“ des menschlichen Lebens abgeben. Das sind dieselben Leute, die bei anderer Gelegenheit im Namen von anderen absoluten Werten – z.B. der Ehre der Nation oder dem Ansehen der Monarchie – bereit sind, Millionen von Menschen in die Hölle des Krieges zu schicken.

Heute ist ihr nationaler Held der Minister, der den Befehl gibt, auf unbewaffnete Arbeiter zu schießen – im Namen des allerheiligsten Rechtes auf privates Eigentum; und morgen, wenn die verzweifelte Hand eines Arbeitslosen sich zur Faust ballt oder eine Waffe aufnimmt, reden sie allen möglichen Unsinn über die Unzulässigkeit jeglicher Gewalt.

Was die Eunuchen und Pharisäer der Moral auch immer sagen mögen, das Rachegefühl besteht zu Recht. Es ist das höchste moralische Verdienst der Arbeiterklasse, daß sie nicht mit untätiger Gleichgültigkeit auf das schaut, was in dieser besten aller möglichen Welten vor sich geht. Nicht die unerfüllten Rachegefühle des Proletariats zu ersticken, sondern sie im Gegenteil anzustacheln, zu vertiefen und sie gegen die wahren Ursachen aller Ungerechtigkeit und menschlicher Niedertracht zu richten – das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie.

Wenn wir uns terroristischen Akten widersetzen, so nur deshalb, weil individuelle Rache uns nicht zufriedenstellt. Die Rechnung, die wir mit dem kapitalistischen System zu begleichen haben, ist zu umfangreich, um sie einigen Beamten, genannt Minister, zu überreichen. Lernen zu sehen, daß all die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, alle Beleidigungen, denen der menschliche Körper und Geist ausgesetzt sind, entstellte Auswüchse und Äußerungen der bestehenden sozialen Ordnung sind, um unsere ganze Kraft auf einen gemeinsamen Kampf gegen dieses System zu richten, – das ist die Richtung, in der der brennende Wunsch nach Rache seine höchste moralische Befriedigung finden kann.


Anmerkungen

1. Trotzki schrieb diesen Artikel vor der großen Spaltung der sozialistischen Partei in Revolutionäre und Reformisten im August 1914 und meinte, in Übereinstimmung mit anderen Revolutionären dieser Zeit, wie Lenin und Luxemburg, mit „Sozialdemokratie“ die revolutionäre marxistische Bewegung.

2. Am 24.1.1878 erschoß V. S. den Petersburger Polizeichef General Trepov, der das Schlagen eines politischen Gefangenen befohlen hatte, weil dieser seine Mütze nicht abgenommen hatte, als der General vorbeikam. S. wurde von einem Geschworenengericht aus einfachen Leuten freigesprochen, nach einem Gerichtsverfahren, das viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.


Zuletzt aktualisiert am 15. Mai 2021