W. I. Lenin

 

Die drohende Katastrophe und
wie man sie bekämpfen soll

(September 1917)


Quelle: W. I. Lenin, Werke (Berlin 1974), Bd. 25, S. 327–377.
Veröffentlicht Ende Oktober 1917 als Broschüre im Verlag „Priboi“.
Nach dem Manuskript.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Vielen Dank an Red Channel, der die Werke gescannt hat.


Der Hunger rückt heran

Die Regierung ist völlig untätig

Die Kontrollmaßnahmen sind allgemein bekannt und leicht durchführbar

Nationalisierung der Banken

Nationalisierung der Syndikate

Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses

Die Zwangsvereinigung in Verbänden

Regulierung des Verbrauchs

Die Regierung vereitelt die Arbeit der demokratischen Organisationen

Der finanzielle Zusammenbruch und die Maßnahmen dagegen

Kann man vorwärtsschreiten, wenn man Angst hat, zum Sozialismus zuschreiten?

Der Kampf gegen die Zerrüttung und der Krieg

Die revolutionäre Demokratie und das revolutionäre Proletariat


Der Hunger rückt heran

Rußland droht eine unabwendbare Katastrophe. Das Eisenbahntransportwesen ist unglaublich zerrüttet, und diese Zerrüttung schreitet immer weiter fort. Der Eisenbahnverkehr wird zum Erliegen kommen. Die Rohstoff- und Kohlenzufuhr für die Fabriken wird aufhören. Die Getreidezufuhr wird versiegen. Bewußt und unablässig sabotieren (schädigen, untergraben, lähmen und hemmen) die Kapitalisten die Produktion in der Hoffnung, daß eine unerhörte Katastrophe zum Zusammenbruch der Republik und der Demokratie, der Sowjets und überhaupt der proletarischen und bäuerlichen Vereinigungen führen und so die Rückkehr zur Monarchie und die Wiederherstellung der Allmacht der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer erleichtern werde.

Eine Katastrophe von beispiellosem Ausmaß und eine Hungersnot drohen uns unabwendbar. Davon war schon in allen Zeitungen unzählige Male die Rede. Eine Unmenge von Resolutionen sind von den Parteien und von den Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten angenommen worden, Resolutionen, in denen festgestellt wird, daß die Katastrophe unvermeidlich ist, daß sie ganz nahe bevorsteht, daß ein verzweifelter Kampf gegen sie geführt werden muß und daß „heroische Anstrengungen“ des Volkes notwendig sind, um den Untergang abzuwenden, und so weiter.

Alle sagen das. Alle erkennen das an. Für alle steht das fest.

Und nichts geschieht.

Ein halbes Jahr Revolution ist vergangen. Die Katastrophe ist noch näher herangerückt. Es ist zur Massenarbeitslosigkeit gekommen. Man bedenke: Das Land ist ohne Waren, das Land geht aus Mangel an Erzeugnissen, aus Mangel an Arbeitskräften zugrunde, obwohl genügende Mengen von Getreide und Rohstoffen vorhanden sind – und in einem solchen Land, in einem so kritischen Augenblick ist es zur Massenarbeitslosigkeit gekommen! Welcher Beweise bedarf es da noch, um zu zeigen, daß während des halben Jahres Revolution (die von manchen als große Revolution bezeichnet wird, die aber vorderhand wohl mit größerer Berechtigung als „faule“ Revolution bezeichnet werden könnte) in einer demokratischen Republik, bei einer Fülle von Verbänden, Körperschaften und Institutionen, die sich stolz „revolutionär-demokratisch“ nennen, praktisch absolut nichts Ernsthaftes gegen die Katastrophe, gegen die Hungersnot getan worden ist? Wir nähern uns immer rascher dem Zusammenbruch, denn der Krieg wartet nicht, und die durch ihn hervorgerufene Zerrüttung aller Gebiete des Volkslebens verschärft sich immer mehr.

Dabei genügt ein ganz klein wenig Aufmerksamkeit und Nachdenken, um sich davon zu überzeugen, daß Mittel zur Bekämpfung der Katastrophe und des Hungers vorhanden sind, daß die Kampfmaßnahmen völlig klar und einfach, voll durchführbar, den Volkskräften durchaus angemessen sind und daß diese Maßnahmen nur deshalb, ausschließlich deshalb nicht getroffen werden, weil ihre Verwirklichung die unerhörten Profite eines kleinen Häufleins von Gutsbesitzern und Kapitalisten beeinträchtigen würde.

In der Tat. Man kann sich dafür verbürgen, daß keine einzige Rede, kein einziger Artikel in einer Zeitung beliebiger Richtung, keine einzige Resolution einer beliebigen Versammlung oder Institution zu finden ist, wo nicht ganz klar und bestimmt die grundlegende und wichtigste Maßnahme zur Bekämpfung, zur Abwendung der Katastrophe und der Hungersnot anerkannt worden wäre. Diese Maßnahme ist: Kontrolle, Aufsicht, Rechnungsführung, Regulierung durch den Staat, richtige Verteilung der Arbeitskräfte in Produktion und Distribution, Haushalten mit den Kräften des Volkes, Vermeidung jedes überflüssigen Kraftaufwands, sparsames Umgehen mit den Kräften. Kontrolle, Aufsicht, Rechnungsführung – das ist das Entscheidende im Kampf gegen die Katastrophe und gegen die Hungersnot. Das wird nicht bestritten und ist allgemein anerkannt. Aber gerade das ist es, was nicht getan wird aus Angst, die Allmacht der Gutsbesitzer und Kapitalisten, ihre maßlosen, unerhörten, skandalösen Profite anzutasten, Profite, die infolge der Teuerung und durch Heereslieferungen (für den Krieg aber „arbeiten“ jetzt direkt oder indirekt beinah alle) eingeheimst werden, Profite, von denen jeder weiß, die jeder beobachtet, über die alle zetern.

Und der Staat tut nichts, rein gar nichts, um eine einigermaßen ernsthafte Kontrolle, Rechnungsführung und Aufsicht zu verwirklichen.
 

Die Regierung ist völlig untätig

Allenthalben findet man eine systematische, ständige Sabotage jeder Kontrolle, Aufsicht und Rechnungsführung, jeglicher Versuche, sie durch den Staat in Gang zu bringen. Nun gehört eine unglaubliche Naivität dazu, nicht zu begreifen – und es gehört ausgesprochene Heuchelei dazu, so zu tun, als ob man nicht begriffe –, von wo diese Sabotage ausgeht und mit welchen Mitteln sie betrieben wird. Denn diese Sabotage der Bankiers und Kapitalisten, dieses Hintertreiben jeder Kontrolle, Aufsicht und Rechnungsführung wird den staatlichen Formen der demokratischen Republik angepaßt, wird der Existenz „revolutionär-demokratischer“ Institutionen angepaßt. Die Herren Kapitalisten haben sich sehr gut die Wahrheit zu eigen gemacht, zu der sich in Worten alle Anhänger des wissenschaftlichen Sozialismus bekennen, die die Menschewiki und: Sozialrevolutionäre aber sofort zu vergessen trachteten, sobald ihre Freunde Pöstchen als Minister, Vizeminister usw. gefunden hatten. Gemeint ist die Wahrheit, daß das ökonomische Wesen der kapitalistischen Ausbeutung in keiner Weise berührt wird, wenn an die Stelle der monarchistischen Regierungsformen republikanisch-demokratische treten, und folglich auch umgekehrt: es braucht bloß die Form des Kampfes für die Unantastbarkeit und Heiligkeit des kapitalistischen Profits geändert zu werden, damit dieser Profit in der demokratischen Republik genauso erfolgreich behauptet werden kann, wie dies zur Zeit der absolutistischen Monarchie der Fall war.

Die gegenwärtige, neueste, republikanisch-demokratische Sabotage jeder Kontrolle, Rechnungsführung und Aufsicht besteht darin, daß die Kapitalisten in Worten das „Prinzip“ der Kontrolle und deren Notwendigkeit „begeistert“ anerkennen (wie alle Menschewiki und Sozialrevolutionäre selbstverständlich auch) und nur darauf bestehen, daß die Einführung dieser Kontrolle auf „allmähliche“, planmäßige, „staatlich geregelte“ Weise vor sich gehe. In Wirklichkeit sind diese wohlklingenden Worte nur ein Deckmantel, um die Kontrolle hintertreiben zu können, sie in ein Nichts, in eine Fiktion zu verwandeln, eine Kontrolle vorzutäuschen, alle sachlichen und praktisch wichtigen Schritte zu verschleppen, unglaublich komplizierte, schwerfällige, bürokratisch-unlebendige Kontrollorgane zu schaffen, die ganz und gar von den Kapitalisten abhängen und rein gar nichts tun und auch nichts tun können.

Damit das Gesagte nicht als leere Behauptung erscheint, wollen wir uns auf Zeugen aus den Reihen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre berufen, d. h. gerade der Leute, die im ersten Halbjahr der Revolution in den Sowjets die Mehrheit hatten, die an der „Koalitionsregierung“ teilnahmen und deshalb vor den russischen Arbeitern und Bauern die politische Verantwortung dafür tragen, daß sie die Kapitalisten gewähren ließen, dafür, daß diese jede Kontrolle hintertreiben konnten.

Das offizielle Organ der höchsten Körperschaft unter den sogenannten „machtbefugten“ (nicht lachen!) Körperschaften der „revolutionären“ Demokratie, die Iswestija des ZEK (d. h. des Zentralexekutivkomitees des Gesamtrussischen Sowjetkongresses der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten), veröffentlichte in Nr. 164 vom 7. September 1917 einen Beschluß der von eben den Menschewiki und Sozialrevolutionären geschaffenen und in ihren Händen befindlichen speziellen Institution für Fragen der Kontrolle. Diese spezielle Institution ist die „Ökonomische Abteilung“ des Zentralexekutivkomitees. In ihrem Beschluß wird „die absolute Untätigkeit der bei der Regierung gebildeten zentralen Körperschaften zur Regulierung des Wirtschaftslebens“ offiziell als Tatsache anerkannt.

Wahrhaftig, kann man sich ein beredteres Zeugnis für den Bankrott der menschewistischen und sozialrevolutionären Politik vorstellen als dieses von den Menschewiki und Sozialrevolutionären eigenhändig unterschriebene?

Schon zur Zeit des Zarismus wurde die Notwendigkeit der Regulierung des Wirtschaftslebens anerkannt, und einige Institutionen wurden zu diesem Zweck geschaffen. Doch griff die Zerrüttung unter dem Zarismus immer mehr um sich und nahm ungeheure Ausmaße an. Es galt von Anfang an als Aufgabe der republikanischen, revolutionären Regierung, ernsthafte, entschiedene Maßnahmen zur Oberwindung der Zerrüttung zu ergreifen. Als die „Koalitionsregierung unter Beteiligung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre gebildet wurde, gab sie in ihrer höchst feierlichen, an das ganze Volk gerichteten Deklaration vom 6. Mai das Versprechen und übernahm die Verpflichtung, eine staatliche Kontrolle und Regulierung einzuführen. Sowohl die Zereteli und Tschernow als auch die übrigen menschewistischen und Sozialrevolutionären Führer schwuren und beteuerten, daß sie nicht nur für die Regierung verantwortlich seien, sondern daß die in ihren Händen befindlichen „bevollmächtigten Organe der revolutionären Demokratie“ die Arbeit der Regierung wirklich überwachten und kontrollierten.

Seit dem 6. Mai sind vier Monate, vier lange Monate verflossen, in denen Rußland für die unsinnige imperialistische „Offensive“ Hunderttausende von Soldaten in den Tod getrieben hat, in denen die Zerrüttung und die Katastrophe mit Riesenschritten immer näher heranrückten, obwohl der Sommer gerade äußerst günstige Möglichkeiten geboten hat, auf dem Gebiet der Schiffahrt, der Landwirtschaft, der geologischen Schürfungen usw. usf. vieles zu leisten – nach diesen vier Monaten sehen sich nun die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gezwungen, die „absolute Untätigkeit“ der bei der Regierung gebildeten Kontrollinstitutionen offiziell zuzugeben!!

Und diese Menschewiki und Sozialrevolutionäre schwatzen jetzt (wir schreiben diese Zeilen gerade am Vorabend der Demokratischen Beratung, am 12. September [1] mit der ernsten Miene von Staatsmännern davon, daß in dieser Sache Abhilfe geschaffen werden könnte, wenn man die Koalition mit den Kadetten durch eine Koalition mit den Kit Kitytsch [1*] der Industrie und des Handels, den Rjabuschinski, Bublikow, Tereschtschenko und Co. ersetzte!

Nun fragt es sich, wie ist diese erstaunliche Blindheit der Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu erklären? Soll man sie als politische Säuglinge betrachten, die so überaus vernunftlos und naiv sind, daß sie nicht wissen, was sie tun, und sich in gutem Glauben irren? Oder hat die Fülle der besetzten Pöstchen von Ministern, Vizeministern, Generalgouverneuren, Kommissaren und dergleichen mehr die Eigenschaft, eine besondere, eine „politische“ Blindheit hervorzurufen?
 

Die Kontrollmaßnahmen sind allgemein bekannt und leicht durchführbar

Es kann die Frage auftauchen, ob die Mittel und Methoden der Kontrolle nicht etwas außerordentlich Kompliziertes, Schwieriges, Unerprobtes, ja selbst Unbekanntes darstellen. Ob sich die Verschleppung nicht daraus erklärt, daß die Staatsmänner der Kadettenpartei, der Industrie-und Handelsklasse, der Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki sich schon seit einem halben Jahr im Schweiße ihres Angesichts abmühen, Mittel und Methoden der Kontrolle ausfindig zu machen, zu studieren, zu eröffnen, daß sich die Aufgabe aber als unerhört schwierig und noch immer als ungelöst erweist.

Mitnichten! Man ist bestrebt, den unwissenden, analphabetischen, verschüchterten Bäuerlein und auch den Spießern, die alles glauben und nichts tiefer zu ergründen suchen, „Sand in die Augen zu streuen“ und die Sache eben in dieser Weise darzustellen. In Wirklichkeit aber wußte sogar der Zarismus, sogar das „alte Regime“, das die Kriegsindustriekomitees schuf, welches die grundlegende Maßnahme ist, worin vor allem die Mittel und Methoden der Kontrolle bestehen: in der Zusammenfassung der Bevölkerung nach den verschiedenen Berufen, Tätigkeitsarten, Arbeitszweigen usw. Doch der Zarismus fürchtete die Zusammenfassung der Bevölkerung und tat daher alles, um diese wohlbekannten, überaus leicht und voll anwendbaren Mittel und Methoden der Kontrolle einzuschränken und künstlich zu beschneiden.

Alle kriegführenden Staaten, denen der Krieg schwerste Lasten auferlegt, die er in größte Not stürzt und die – in größerem oder geringerem Maße – unter der Zerrüttung und der Hungersnot leiden, haben schon längst eine ganze Reihe von Kontrollmaßnahmen vorgesehen, festgelegt, angewandt und erprobt, die fast immer auf die Zusammenfassung der Bevölkerung, auf die Schaffung oder Förderung von Vereinigungen aller Art hinauslaufen, an denen Vertreter des Staates teilnehmen, die unter Aufsicht des Staates stehen usw. Alle diese Kontrollmaßnahmen sind allgemein bekannt, über sie wurde viel gesprochen und viel geschrieben; die Gesetze, die von den fortgeschrittenen kriegführenden Staaten erlassen worden sind und die Kontrolle betreffen, sind ins Russische übersetzt oder in der russischen Presse ausführlich dargelegt worden.

Hätte unser Staat die Kontrolle wirklich ernsthaft und sachlich durchführen wollen, hätten sich seine Institutionen nicht selbst durch ihre Kriecherei vor den Kapitalisten zur „absoluten Untätigkeit“ verdammt, so hätte der Staat nur mit beiden Händen aus dem überaus reichen Vorrat an schon bekannten, schon angewandten Kontrollmaßnahmen zu schöpfen brauchen. Das einzige Hindernis, das im Wege steht, ein Hindernis, das die Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki dem Volke verheimlichen, ist und bleibt eben die Tatsache, daß die Kontrolle die wahnwitzigen Profite der Kapitalisten aufdecken und diesen Profiten Abbruch tun würde.

Um diese überaus wichtige Frage anschaulicher zu erläutern (sie ist im Grunde gleichbedeutend mit der Frage nach dem Programm jeder wirklich revolutionären Regierung, die gewillt wäre, Rußland vor Krieg und Hungersnot zu retten), wollen wir die wichtigsten Kontrollmaßnahmen aufzählen und jede einzelne näher untersuchen.

Wir werden sehen, daß es genügt hätte, wenn eine Regierung, die nicht nur zum Spott revolutionär-demokratisch genannt wird, schon in der ersten Woche ihres Bestehens die Verwirklichung der Hauptmaßnahmen für die Kontrolle dekretiert (beschlossen, verfügt) hätte, wenn sie gegen die Kapitalisten, die sich auf betrügerischem Wege der Kontrolle entziehen wollen, ernsthafte,' empfindliche Strafen festgesetzt und die Bevölkerung aufgefordert hätte, selbst die Kapitalisten zu beaufsichtigen, selbst darüber zu wachen, daß die Kontrollverordnungen von den Kapitalisten gewissenhaft eingehalten werden – und die Kontrolle wäre in Rußland schon längst verwirklicht.

Diese wichtigsten Maßnahmen sind:

  1. Vereinigung aller Banken zu einer einzigen Bank und staatliche Kontrolle über ihre Operationen oder Nationalisierung der Banken.
     
  2. Nationalisierung der Syndikate, d. h. der größten, der monopolistischen Verbände der Kapitalisten (Zucker-, Erdöl-, Kohlen-, Hüttensyndikat usw.).
     
  3. Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses.
     
  4. Zwangssyndizierung (d. h. Zwangsvereinigung in Verbänden) der Industriellen, Kaufleute und Unternehmer überhaupt.
     
  5. Zwangsvereinigung der Bevölkerung in Konsumgenossenschaften oder Förderung einer solchen Vereinigung und Kontrolle über sie.

Wir wollen nunmehr untersuchen, welche Bedeutung jede dieser Maßnahmen haben würde, vorausgesetzt, daß sie auf revolutionär-demokratische Weise durchgeführt wird.
 

Nationalisierung der Banken

Die Banken sind bekanntlich die Zentren des modernen Wirtschaftslebens, die wichtigsten Nervenknoten des gesamten kapitalistischen Systems der Volkswirtschaft. Von einer „Regulierung des Wirtschaftslebens“ sprechen und die Frage der Nationalisierung der Banken umgehen heißt entweder krasseste Unwissenheit an den Tag legen oder das „einfache Volk“ mit hochtrabenden Redensarten und einem Schwall von Versprechungen betrügen, die man von vornherein nicht zu halten beabsichtigt.

Die Getreidebelieferung oder überhaupt die Produktion und Verteilung der Produkte kontrollieren und regulieren zu wollen, ohne dabei die Bankoperationen zu kontrollieren und zu regulieren, ist Unsinn. Das ist ungefähr so, als wollte man nach Kopeken greifen, die einem zufällig unter die Finger kommen, während man Millionen Rubel unbeachtet läßt. Die modernen Banken sind so eng und untrennbar mit dem Handel (dem Getreidehandel und jedem sonstigen) und der Industrie verwachsen, daß man, ohne auf die Banken „die Hand zu legen“, absolut nichts Ernsthaftes, nichts „Revolutionär-Demokratisches“ tun kann.

Aber vielleicht ist es eine sehr schwierige und verwickelte Operation für den Staat, auf die Banken „die Hand zu legen“? Man bemüht sich gewöhnlich, die Spießer gerade durch solch eine Darstellung einzuschüchtern – natürlich sind es die Kapitalisten und ihre Verteidiger, die sich bemühen, denn für sie ist das vorteilhaft.

In Wirklichkeit bietet die Nationalisierung der Banken, durch die keinem einzigen „Eigentümer“ auch nur eine Kopeke genommen wird, überhaupt keinerlei Schwierigkeiten, weder technischer noch kultureller Art, sie wird vielmehr ausschließlich durch die schmutzige Profitgier eines verschwindend kleinen Häufleins von Reichen hintertrieben. Wenn die Nationalisierang der Banken so oft mit der Konfiskation der Privatvermögen verwechselt wird, so trägt die Schuld an der Verbreitung dieser Begriffsverwirrung die bürgerliche Presse, in deren Interesse es liegt, die Öffentlichkeit zu betrügen.

Das Eigentum an den Kapitalien, mit denen die Banken operieren und die in den Banken konzentriert sind, wird durch gedruckte und schriftliche Urkunden bescheinigt, die man Aktien, Obligationen, Wechsel, Quittungen u. dgl. m. nennt. Keine einzige derartige Bescheinigung würde durch die Nationalisierung der Banken, d. h. durch die Verschmelzung aller Banken zu einer einzigen Staatsbank, verfallen oder ihren Charakter ändern. Wer auf einem Sparkassenbuch 15 Rubel besessen hat, bleibt auch nach der Nationalisierung der Banken der Besitzer dieser 15 Rubel, und wer 15 Millionen hatte, dem verbleiben auch nach der Nationalisierung der Banken 15 Millionen in Gestalt von Aktien, Obligationen, Wechseln, Warenzertifikaten und dergleichen mehr.

Worin besteht also die Bedeutung der Nationalisierung der Banken?

Darin, daß über die einzelnen Banken und ihre Operationen eine wirkliche Kontrolle (selbst wenn man das Geschäftsgeheimnis usw. aufgehoben hat) unmöglich ist, denn man kann unmöglich die überaus komplizierten, verwickelten und raffinierten Methoden durchschauen, die bei der Aufstellung der Bilanzen, bei der Gründung von fiktiven Unternehmen und von Zweigstellen, beim Vorschieben von Strohmännern usw. usf. angewendet werden. Nur die Vereinigung aller Banken zu einer einzigen, was an sich nicht die geringste Veränderung der Eigentumsverhältnisse bedeutet und, wir wiederholen das, keinem einzigen Eigentümer auch nur eine Kopeke wegnimmt, ermöglicht eine wirkliche Kontrolle, selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß alle anderen oben angeführten Maßnahmen zur Anwendung kommen. Nur wenn die Banken nationalisiert sind, kann man erreichen, daß der Staat darüber unterrichtet ist, wohin und woher, wie und wann die Millionen und Milliarden kommen und gehen. Und nur die Kontrolle über die Banken, über dieses Zentrum, dieses Kernstück, den Hauptmechanismus der kapitalistischen Zirkulation, würde es ermöglichen, in der Tat und nicht nur in Worten die Kontrolle über das gesamte Wirtschaftsleben, über die Produktion und Verteilung der wichtigsten Erzeugnisse in Gang zu bringen, jene „Regulierung des Wirtschaftslebens“ in die Wege zu leiten, die sonst unweigerlich dazu verurteilt ist, eine Phrase der Minister zur Irreführung des einfachen Volkes zu bleiben. Nur die Kontrolle über die Bankoperationen – bei Vereinigung der Banken zu einer einzigen Staatsbank – schafft die Möglichkeit, unter Anwendung weiterer leicht durchführbarer Maßnahmen die Einkommensteuer wirklich einzuziehen, ohne daß dabei Vermögen und Einkommen verheimlicht werden können, denn gegenwärtig bleibt die Einkommensteuer in höchstem Grade eine Fiktion.

Die Nationalisierung der Banken brauchte man nur zu dekretieren, durchführen würden sie die Direktoren und Angestellten selber. Dazu bedarf es keines besonderen Apparats, keinerlei besonderer vorbereitender Schritte des Staates, diese Maßnahme läßt sich durch einen einzigen Erlaß, „mit einem Schlag“ verwirklichen. Denn eine solche Maßnahme ist gerade vom Kapitalismus ökonomisch ermöglicht worden, nachdem er sich bis zu Wechseln, Aktien, Obligationen usw. entwickelt hat. Was zu tun übrigbleibt, ist nur noch die Zusammenlegung der Buchführung, und wenn der revolutionär-demokratische Staat beschlösse: es sind sofort, telegrafisch, in jeder Stadt Versammlungen und in den Gebieten und im ganzen Lande Tagungen der Direktoren und Angestellten einzuberufen, um alle Banken unverzüglich zu einer einzigen Staatsbank zu vereinigen, so würde diese Reform in wenigen Wochen durchgeführt sein. Freilich würden gerade die Direktoren und höheren Angestellten Widerstand leisten und sich bemühen, den Staat zu betrügen, die Sache auf die lange Bank zu schieben usw., denn diese Herren würden ja ihre besonders einträglichen Pöstchen verlieren, würden die Möglichkeit zu besonders gewinnbringenden Schwindeloperationen verlieren; das ist der Kern der ganzen Sache. Jedoch stehen der Vereinigung der Banken nicht die geringsten technischen Schwierigkeiten im Wege, und wenn die Staatsmacht nicht nur in Worten revolutionär ist (d. h. wenn sie sich nicht fürchtet, mit althergebrachten Anschauungen und verknöcherten Gewohnheiten zu brechen), wenn sie nicht nur in Worten demokratisch ist (d. h. wenn sie im Interesse der Mehrheit des Volkes und nicht im Interesse einer Handvoll Reicher handelt), so braucht sie nur zu dekretieren, daß Direktoren, Verwaltungsmitglieder und Großaktionäre, die die Sache auch nur im geringsten verschleppen, die versuchen, Dokumente oder Abrechnungen auf die Seite zu schaffen, mit Vermögenseinzug und Gefängnis bestraft werden, so braucht sie z. B. nur die armen Angestellten gesondert zusammenzufassen und ihnen Prämien auszusetzen für die Aufdeckung der Gaunereien und Verschleppungen seitens der Reichen – und die Nationalisierung der Banken ginge glatter und rascher vonstatten, als man sich träumen laßt.

Die Vorteile, die das ganze Volk, und zwar in der Hauptsache nicht die Arbeiter (denn die Arbeiter haben mit Banken wenig zu tun), sondern die Masse der Bauern und kleinen Unternehmer, aus der Nationalisierung der Banken zöge, wären ganz gewaltig. Die Ersparnis an Arbeitsaufwand wäre enorm, und wenn man annimmt, daß der Staat die bisherige Anzahl der Bankangestellten beibehielte, ergäbe das einen überaus großen Schritt vorwärts in Richtung auf eine universelle (allgemeine) Benutzung der Banken, eine Zunahme ihrer Zweigstellen, eine größere Zugänglichkeit der Bankgeschäfte usw. usf. Gerade für die kleinen Eigentümer, für die Bauernschaft, würden Kredite dadurch außerordentlich erleichtert und viel zugänglicher gemacht werden. Der Staat aber bekäme zum erstenmal die Möglichkeit, zunächst alle wichtigen Geldoperationen, ohne daß diese verheimlicht werden können, zu überblicken und dann zu kontrollieren, ferner das Wirtschaftsleben zu regulieren und schließlich Millionen und Milliarden für große staatliche Operationen zu erhalten, ohne den Herren Kapitalisten wahnwitzige „Provisionen“ für ihre „Dienste“ zu zahlen. Das und nur das ist der Grund, warum alle Kapitalisten, alle bürgerlichen Professoren, die ganze Bourgeoisie, alle ihr gegenüber dienstbeflissenen Plechanow, Potressow und Co. bereit sind, mit Schaum vor dem Munde gegen die Nationalisierung der Banken zu kämpfen, tausenderlei Einwände gegen diese überaus leicht durchzuführende und dringliche Maßnahme zu ersinnen, obwohl diese Maßnahme sogar vom Standpunkt der „Landesverteidigung“, d. h. vom militärischen Standpunkt aus, von gewaltigem Vorteil wäre und die „militärische Macht“ des Landes in ungeheurem Maße steigern würde.

Hier könnte man vielleicht einwenden: Warum führen denn so fortgeschrittene Länder wie Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika eine großartige „Regulierung des Wirtschaftslebens“ durch, ohne an eine Nationalisierung der Banken auch nur zu denken?

Darum, antworten wir, weil diese Staaten, obwohl der erste eine Monarchie und der zweite eine Republik ist, beide nicht nur kapitalistische, sondern auch imperialistische Staaten sind. Als solche führen sie die für sie notwendig gewordenen Reformen auf reaktionär-bürokratischem Wege durch, wir aber sprechen hier vom revolutionär-demokratischen Weg.

Dieser „kleine Unterschied“ ist sehr wesentlich. Es ist meist „nicht üblich“, über ihn nachzudenken. Das Wort „revolutionäre Demokratie“ ist bei uns (besonders bei den Sozialrevolutionären und Menschewiki) beinahe zu einer konventionellen Phrase geworden, wie etwa der Ausdruck „Gott sei Dank“, der auch von Leuten gebraucht wird, die nicht so unwissend sind, an Gott zu glauben, oder wie etwa der Ausdruck „ehrenwerter Bürger“, mit dem man mitunter sogar die Mitarbeiter des Den oder des Jedinstwo anspricht, obwohl fast alle wissen, daß diese Zeitungen von Kapitalisten im Interesse der Kapitalisten gegründet wurden und unterhalten werden und daß darum die Mitarbeit von Pseudosozialisten an diesen Zeitungen sehr wenig „Ehrenwertes“ enthält.

Wenn man die Worte „revolutionäre Demokratie“ nicht als schablonenhafte Paradephrase, nicht als konventionelle Redewendung gebraucht, sondern über ihre Bedeutung nachdenkt, dann heißt Demokrat sein, wirklich den Interessen der Mehrheit und nicht der Minderheit des Volkes Rechnung tragen, dann heißt Revolutionär sein, alles Schädliche und Veraltete mit größter Entschiedenheit und Schonungslosigkeit niederreißen.

Weder in Amerika noch in Deutschland erheben die Regierungen oder die herrschenden Klassen, soviel man hört, Anspruch auf den Titel „revolutionäre Demokratie“, den unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki für sich beanspruchen (und den sie prostituieren).

In Deutschland gibt es alles in allem vier private Großbanken von gesamtnationaler Bedeutung, in Amerika alles in allem zwei. Für die Finanzkönige dieser Banken ist es leichter, bequemer und vorteilhafter, sich privat und heimlich, auf reaktionäre und nicht revolutionäre, bürokratische und nicht demokratische Weise zusammenzutun, die Staatsbeamten zu bestechen (das ist die allgemeine Regel, sowohl in Amerika wie in Deutschland) und den privaten Charakter der Banken beizubehalten, gerade um das Geschäftsgeheimnis zu wahren, gerade um Millionen und aber Millionen von „Extraprofiten“ aus eben dem Staat herauszuschlagen, gerade um betrügerische Finanzmanipulationen durchführen zu können.

Sowohl Amerika als auch Deutschland „regulieren das Wirtschaftsleben“ so, daß dabei für die Arbeiter (und zum Teil für die Bauern) ein Militärzuchthaus, für die Bankiers und Kapitalisten aber ein Paradies geschaffen wird. Ihre Regulierung besteht darin, daß man die Arbeiter „durchhalten“ und hungern läßt, den Kapitalisten aber (insgeheim, auf reaktionär-bürokratische Weise) höhere Profite sichert als vor dem Krieg.

Diese Methode ist auch im republikanisch-imperialistischen Rußland durchaus möglich; sie wird nicht nur von den Miljukow und Schingarjow, sondern auch von Kerenski in Eintracht mit Tereschtschenko, Nekrassow, Bemazki, Prokopowitsch und Co. angewandt, die ebenfalls auf reaktionär-bürokratische Weise die „Unantastbarkeit“ der Banken, deren geheiligte Rechte auf wahnwitzige Profite schützen. Laßt uns doch lieber die Wahrheit sagen: Im republikanischen Rußland möchte man das Wirtschaftsleben auf reaktionär-bürokratische Weise regulieren, nur weiß man „oft“ nicht recht, wie man das durchführen soll angesichts der Existenz der „Sowjets“, die auseinanderzujagen Kornilow Nummer eins nicht vermocht hat, die aber Kornilow Nummer zwei auseinanderzujagen bemüht sein wird ...

So sieht die Wahrheit aus. Und diese einfache, wenn auch bittere Wahrheit ist zur Aufklärung des Volkes nützlicher als die süßliche Lüge von „unserer“, „großen“, „revolutionären“ Demokratie ...

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Die Nationalisierung der Banken würde auch die gleichzeitige Nationalisierung des Versicherungswesens äußerst erleichtern, d. h. die Vereinigung aller Versicherungsgesellschaften zu einer einzigen, die Zentralisierung ihrer Tätigkeit und die staatliche Kontrolle über sie. Tagungen der Angestellten der Versicherungsgesellschaften könnten auch hier sofort und ohne jede Mühe diese Vereinigung durchführen, wenn der revolutionär-demokratische Staat das anordnete und den Direktoren der Verwaltungen und den Großaktionären unter strenger Haftbarmachung eines jeden einzelnen vorschriebe, die Vereinigung ohne den geringsten Aufschub durchzuführen. Im Versicherungswesen haben die Kapitalisten Hunderte von Millionen investiert, die ganze Arbeit wird von Angestellten geleistet. Die Zusammenlegung der Versicherungsgesellschaften würde die Versicherungsprämien herabsetzen, allen Versicherten eine Menge Vorteile und Erleichterungen bringen und es ermöglichen, bei gleichbleibendem Aufwand an Kraft und Mitteln den Kreis der Versicherten zu erweitern. Außer althergebrachten Anschauungen und verknöcherten Gewohnheiten sowie dem Eigennutz einer Handvoll Inhaber von einträglichen Pöstchen hindert rein gar nichts diese Reform, die ebenfalls dazu beitragen würde, die „Verteidigungsfähigkeit“ des Landes zu heben, da sie Volksarbeit einspart und eine Reihe bedeutsamer Möglichkeiten eröffnet, nicht nur in Worten, sondern in Wirklichkeit das „Wirtschaftsleben zu regulieren“.
 

Nationalisierung der Syndikate

Der Kapitalismus unterscheidet sich von den alten, vorkapitalistischen Systemen der Volkswirtschaft dadurch, daß er die verschiedenen Zweige der Volkswirtschaft in engste Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit gebracht hat. Wäre das nicht der Fall, so würden, nebenbei gesagt, keinerlei Schritte zum Sozialismus technisch durchführbar sein. Der moderne Kapitalismus aber hat mit seiner Herrschaft der Banken über die Produktion diese gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Zweige der Volkswirtschaft bis zum höchsten Grade gesteigert. Die Banken und die wichtigsten Zweige der Industrie und des Handels sind untrennbar miteinander verwachsen. Einerseits bedeutet das, daß es nicht möglich ist. nur die Banken zu nationalisieren, ohne gleichzeitig Schritte zu unternehmen, aus den Handels- und Industriesyndikaten (Zucker-, Kohlen-, Eisen-, Erdölsyndikat usw.) ein Staatsmonopol zu schaffen, ohne diese Syndikate zu nationalisieren. Anderseits bedeutet das, daß die Regulierung des Wirtschaftslebens, wenn sie ernstlich durchgeführt werden soll, gleichzeitig die Nationalisierung sowohl der Banken wie auch der Syndikate erforderlich macht.

Nehmen wir beispielsweise das Zuckersyndikat. Es wurde noch unter dem Zarismus geschaffen und führte damals zu einer großangelegten kapitalistischen Vereinigung vorzüglich ausgerüsteter Fabriken und Werke, wobei diese Vereinigung selbstverständlich durch und durch von erzreaktionärem und bürokratischem Geist durchdrungen war, den Kapitalisten skandalös hohe Profite sicherte, die Angestellten und Arbeiter aber in die Lage von absolut rechtlosen, erniedrigten, geknechteten, versklavten Menschen versetzte. Der Staat kontrollierte und regulierte schon damals die Produktion – zugunsten der Geldmagnaten, der Reichen.

Man braucht hier nur die reaktionär-bürokratische Regulierung in eine revolutionär-demokratische zu verwandeln, und zwar durch einfache Verfügungen üBer die Einberufung einer Tagung der Angestellten, Ingenieure, Direktoren und Aktionäre, über die Einführung einer einheitlichen Rechenschaftslegung, über die Kontrolle durch die Arbeiterverbände usw. Das ist die denkbar einfachste Sache – und gerade sie bleibt ungetan!! In der demokratischen Republik bleibt in Wirklichkeit die reaktionär-bürokratische Regulierung der Zuckerindustrie bestehen, alles bleibt beim alten: die Vergeudung von Volksarbeit, die verknöcherten Gewohnheiten, die Stagnation und die Bereicherung der Bobrinski und Tereschtschenko. Die Demokratie und nicht die Bürokratie, die Arbeiter und Angestellten und nicht die „Zuckerkönige“ zur selbständigen Initiative aufrufen – das hätte in ein paar Tagen, mit einem Schlag getan werden können und müssen, wenn die Sozialrevolutionäre und Menschewiki das Bewußtsein des Volkes nicht durch Pläne einer „Koalition“ gerade mit diesen Zuckerkönigen getrübt hätten, gerade der Koalition mit den Geldsäcken, aus der sich ganz zwangsläufig die „absolute Untätigkeit“ der Regierung in Sachen der Regulierung des Wirtschaftslebens ergibt. [2*]

Nehmen wir die Erdölindustrie. Sie ist bereits durch die vorangegangene Entwicklung des Kapitalismus in riesigem Ausmaß „vergesellschaftet“ worden. Ein paar Petroleumkönige sind es, die mit Hunderten und aber Hunderten von Millionen schalten und walten; sie beschäftigen sich mit Kuponschneiden und mit dem Einheimsen phantastisch hoher Profite aus einem „Geschäft“, das in Wirklichkeit technisch bereits in nationalem Maßstab gesellschaftlich organisiert ist und bereits von Hunderten und Tausenden von Angestellten, Ingenieuren usw. geleitet wird. Die Nationalisierung der Erdölindustrie ist sofort möglich und für einen revolutionär-demokratischen Staat Pflicht, zumal wenn dieser eine überaus schwere Krise durchmacht, wo es gilt, um jeden Preis Volksarbeit einzusparen und die Brennstoffproduktion zu steigern. Es ist klar, daß eine bürokratische Kontrolle hier nichts nützen und nichts ändern wird, denn mit den Tereschtschenko. und Kerenski, mit den Awksenrjew und Skobelew werden die „Petroleumkönige“ genauso leicht fertig, wie sie mit den Ministem des Zaren fertig geworden sind – mit Hilfe von Verschleppungen, Ausflüchten und Versprechungen, mit Hilfe direkter und indirekter Bestechung der bürgerlichen Presse (das nennt man „öffentliche Meinung“, der die Kerenski und Awksenrjew „Rechnung tragen“) und durch Bestechung der Beamten (die von den Kerenski und Awksentjew in dem alten unangetasteten Staatsapparat auf ihren alten Posten belassen werden).

Um etwas Ernsthaftes zu tun, muß man von der Bürokratie zur Demokratie übergehen, und zwar auf wirklich revolutionäre Art, d. h., man muß den Petroleumkönigen und -aktionären den Krieg erklären, man muß durch Dekret festlegen, daß für die Verschleppung der Nationalisierung der Erdölindustrie, für die Verheimlichung von Einkünften oder Abrechnungen, für Sabotage an der Produktion und für das Unterlassen von Maßnahmen zur Produktionssteigerung Vermögenseinzug und Gefängnisstrafen verhängt werden. Man muß an die Initiative der Arbeiter und Angestellten appellieren, sie sofort zu Beratungen und Tagungen zusammenrufen und ihnen einen bestimmten Gewinnanteil überlassen unter der Bedingung, daß eine allseitige Kontrolle eingeführt und die Produktion gesteigert wird. Wären solche revolutionär-demokratischen Schritte sofort, ohne Verzug im April 1917 getan worden, dann hätte Rußland, das an Vorkommen flüssigen Brennstoffs zu den reichsten Ländern der Welt gehört, im Laufe des Sommers, unter Ausnutzung der Wasserstraßen, außerordentlich viel tun können, um das Volk mit Brennstoff in den nötigen Mengen zu versorgen.

Weder die bürgerliche Regierung noch die sozialrevolutionär-menschewistisch-kadettische Koalitionsregierung haben auch nur das geringste getan; sie haben sich mit einer bürokratischen Reformspielerei begnügt. Keinen einzigen revolutionär-demokratischen Schritt wagten sie zu unternehmen. Dieselben Petroleumkönige, dieselbe Stagnation, derselbe Haß der Arbeiter und Angestellten gegen die Ausbeuter, derselbe Zerfall, der auf diesem Boden um sich greift, dieselbe Vergeudung von Volksarbeit – alles, wie es unter dem Zarismus war, geändert hat sich nur der Kopf der Briefe, die in den „republikanischen“ Kanzleien abgehen und eintreffen!

In der Kohlenindustrie, die technisch und kulturell nicht weniger „reif“ für die Nationalisierung ist und die von denen, die das Volk ausplündern, den Kohlenkönigen, nicht weniger schändlich verwaltet wird, ist uns eine Reihe von höchst anschaulichen Tatsachen direkter Sabotage, unmittelbarer Schadenstiftung und Stillegung der Produktion durch die Industriellen bekannt. Selbst die ministerielle menschewistische Rabotschaja Gaseta hat diese Tatsachen zugegeben. Und was weiter? Man hat rein gar nichts getan, außer daß man die alten, reaktionär-bürokratischen Beratungen „auf Halbpart“ wieder aufzog, die zu gleichen Teilen aus Arbeitern und aus den Räubern vom Kohlensyndikat bestehen!! Kein einziger revolutionär-demokratischer Schritt, nicht die Spur eines Versuchs zur Errichtung der einzig realen Kontrolle, der Kontrolle von unten, durch die Angestelltenverbände, durch die Arbeiter, mit Hufe des Terrors gegen die Zechenbarone, die das Land ins Verderben stürzen und die Produktion stillegen! Wie sollte man auch, wir sind ja „alle“ für die „Koalition“, wenn nicht mit den Kadetten, so mit den Handels- und Industriekreisen, und Koalition heißt eben, den Kapitalisten die Macht belassen, sie ungestraft gewähren lassen, ihnen gestatten, die Produktion zu hemmen, alles auf die Arbeiter zu schieben, die Zerrüttung zu verstärken und auf diese Weise einen neuen Kornilowputsch vorzubereiten!
 

Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses

Ohne Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses bleibt die Kontrolle über Produktion und Verteilung entweder ein leeres Versprechen, das zu nichts anderem dient, als daß die Kadetten die Sozialrevolutionäre und Menschewiki übers Ohr hauen und diese wiederum die werktätigen Klassen, oder die Kontrolle kann nur mit reaktionär-bürokratischen Mitteln und Maßnahmen durchgeführt werden. So offenkundig dies für jeden unvoreingenommenen Menschen auch sein mag, so beharrlich die „Prawda“ auch für die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses eingetreten ist [3*] (gerade das hat in hohem Maße dazu beigetragen, daß die „Prawda“ durch die dem Kapital Lakaiendienste leistende Kerenskiregierung verboten wurde) – unsere republikanische Regierung ebenso wie die „rechtmäßigen Organe der revolutionären Demokratie“ dachten gar nicht an dieses erste Gebot einer wirklichen Kontrolle.

Gerade hier liegt der Schlüssel zu jeder Kontrolle. Gerade hier ist die empfindlichste Stelle des Kapitals, das das Volk ausplündert und die Produktion sabotiert. Das ist auch der Grund, warum die Sozialrevolutionäre und Menschewiki an diesen Punkt nicht zu rühren wagen. Das übliche Argument der Kapitalisten, das von den Kleinbürgern gedankenlos wiederholt wird, besteht darin, daß die kapitalistische Wirtschaft die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses keinesfalls zulasse, da das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Abhängigkeit der einzelnen Betriebe vom Markt die „heilige Unantastbarkeit“ der Geschäftsbücher und der Handelsumsätze, darunter natürlich auch der Bankumsätze, notwendig mache.

Jeder, der in der einen oder anderen Form dieses Argument oder ähnliche wiederholt, läßt sich selbst täuschen und täuscht seinerseits das Volk, denn er schließt die Augen vor zwei grundlegenden, äußerst wichtigen und allgemein bekannten Tatsachen des modernen Wirtschaftslebens. Die erste Tatsache ist das Bestehen des Großkapitalismus, d. h. der Besonderheiten des Wirtschaftsorganismus der Banken, Syndikate, Großbetriebe usw. Die zweite Tatsache ist der Krieg.

Gerade der moderne Großkapitalismus, der sich allenthalben in Monopolkapitalismus verwandelt, nimmt dem Geschäftsgeheimnis jede Spur von vernünftigem Sinn und macht es zur Heuchelei, zu einem bloßen Werkzeug, das nur dazu dient, die Finanzgaunereien und unerhörten Profite des Großkapitals zu verheimlichen. Die kapitalistische Großwirtschaft ist schon ihrer ganzen technischen Natur nach eine vergesellschaftete Wirtschaft, d. h., sie arbeitet für Millionen Menschen und vereinigt durch ihre Operationen, direkt und indirekt, Hunderte, Tausende, ja Zehntausende von Familien. Das ist etwas ganz anderes als der Betrieb eines kleinen Handwerkers oder eines Mittelbauern, die gar keine

Geschäftsbücher führen und deshalb von der Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses gar nicht betroffen werden!

In einem Großbetrieb sind die Operationen ohnehin Hunderten und mehr Personen bekannt. Das Gesetz zum Schutz des Geschäftsgeheimnisses dient hier nicht den Bedürfnissen der Produktion oder des Austauschs, sondern der Spekulation und der Profitsucht in ihrer gröbsten Form, der direkten Gaunerei, die sich bekanntlich in Aktiengesellschaften besonders breitmacht und besonders geschickt durch Abrechnungen und Bilanzen verschleiert wird, die eigens so zusammengestellt werden, daß die Öffentlichkeit betrogen wird.

Wenn das Geschäftsgeheimnis in der kleinen Warenwirtschaft unvermeidlich ist, d. h. bei den Kleinbauern und Handwerkern, wo die Produktion selbst nicht vergesellschaftet, sondern zerstreut, zersplittert ist, so bedeutet der Schutz dieses Geheimnisses im kapitalistischen Großbetrieb nur Schutz der Privilegien und Profite buchstäblich einer Handvoll Leute gegen das ganze Volk. Selbst das Gesetz erkennt das bereits insofern an, als es den Aktiengesellschaften die Veröffentlichung der Abrechnungen vorschreibt; aber diese – in allen fortgeschrittenen Ländern und auch in Rußland bereits eingeführte – Kontrolle ist eben eine reaktionär-bürokratische Kontrolle, die dem Volke nicht die Augen öffnet und ihm nicht die Möglichkeit gibt, die ganze Wahrheit über die Manipulationen der Aktiengesellschaften zu erfahren.

Um revolutionär-demokratisch zu handeln, müßte man sofort ein anderes Gesetz erlassen, das das Geschäftsgeheimnis aufhebt, von den Großbetrieben und den Reichen wirklich vollständige Abrechnungen fordert und jeder beliebigen Gruppe von Bürgern, die eine zahlenmäßig solide demokratische Stärke erreicht hat (sagen wir 1.000 oder 10.000 Wähler), das Recht einräumt, sämtliche Dokumente eines beliebigen Großbetriebs zu überprüfen. Eine solche Maßnahme ist ohne weiteres leicht durch ein einfaches Dekret durchzuführen; einzig und allein solch eine Maßnahme würde die Initiative des Volkes bei der Kontrolle durch die Angestelltenverbände und durch die Arbeiterverbände, durch alle politischen Parteien zur Entfaltung bringen, nur sie allein würde eine ernsthafte und demokratische Kontrolle gewährleisten.

Hinzu kommt noch der Krieg. Die ungeheure Mehrzahl der Handels- und Industrieunternehmen arbeitet jetzt nicht für den „freien Markt“, sondern für den Staat, für den Krieg. Ich habe daher schon in der Prawda ausgeführt, daß diejenigen doppelt und dreifach lügen, die uns das Argument entgegenhalten, es sei unmöglich, den Sozialismus einzuführen, denn es handelt sich nicht darum, jetzt unmittelbar, von heute auf morgen den Sozialismus einzuführen, sondern darum, aufzudecken, wie die Staatskasse geplündert wird. [4*]

Die kapitalistische „Kriegs“wirtschaft (d. h. die Wirtschaft, die direkt oder indirekt mit den Kriegslieferungen zu tun hat) ist ein systematisches, durch Gesetz legalisiertes Plündern der Staatskasse, und die Herren Kadetten zusammen mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären, die sich der Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses widersetzen, sind nichts anderes als Helfershelfer und Hehler beim Plündern der Staatskasse.

Der Krieg kostet Rußland jetzt 50 Millionen Rubel täglich. Diese 50 Millionen Rubel täglich wandern größtenteils in die Taschen der Kriegslieferanten. Von diesen 50 Millionen bilden mindestens 5 Millionen täglich, wahrscheinlich sogar 10 Millionen und noch mehr, die „legalen Nebeneinkünfte“ der Kapitalisten und der mit ihnen – in dieser oder jener Weise – unter einer Decke steckenden Beamten. Besonders die großen Firmen und die Banken, die für die Manipulationen mit Kriegslieferungen Geld vorschießen, bereichern sich an diesem Geschäft durch unerhörte Profite, bereichern sich gerade dadurch, daß sie die Staatskasse plündern, denn anders kann man diese Prellerei und Schinderei des Volkes „anläßlich“ der Kriegsnot, „anläßlich“ der Vernichtung von Hunderttausenden und Millionen Menschen nicht nennen.

Von diesen skandalösen Profiten an den Kriegslieferungen, von den „Garantiebriefen“, die von den Banken verheimlicht werden, davon, wer sich durch die zunehmende Teuerung bereichert, wissen „alle“, davon spricht man schmunzelnd in der „Gesellschaft“, darüber gibt es nicht wenig einzelne genaue Hinweise sogar in der bürgerlichen Presse, die in der Regel „peinliche“ Tatsachen verschweigt und „heikle“ Fragen umgeht. Alle wissen es – und alle schweigen, alle dulden es, alle finden sich mit dieser Regierung ab, die schöne Reden über „Kontrolle“ und „Regulierung“ hält!!

Revolutionäre Demokraten, wenn sie wirkliche Revolutionäre und Demokraten wären, hätten sofort ein Gesetz erlassen, das das Geschäftsgeheimnis aufhebt, das die Heereslieferanten und Kaufleute zu genauer Rechenschaftslegung verpflichtet, das ihnen verbietet, ihre Geschäfte ohne Erlaubnis der Behörden aufzugeben, ein Gesetz, das Vermögenseinzug und Erschießung [5*] für die Verheimlichung von Einkünften und für Betrug am Volke einführt und dafür sorgt, daß eine Überprüfung und Kontrolle von unten, demokratisch, durch das Volk selbst, durch die Verbände der Angestellten, der Arbeiter, der Konsumenten usw., stattfindet.

Unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki verdienen durchaus den Namen verängstigte Demokraten, denn in dieser Frage wiederholen sie das, was alle verängstigten Spießbürger sagen, nämlich daß die Kapitalisten bei „zu harten“ Maßnahmen „davonliefen“, daß „wir“ ohne die Kapitalisten nicht auskämen, daß wohl auch die englischen und französischen Millionäre, die uns doch „unterstützen“, „gekränkt“ sein würden und dergleichen mehr. Man könnte meinen, die Bolschewiki schlagen etwas in der Geschichte der Menschheit noch nie Dagewesenes, nie Erprobtes, „Utopisches“ vor, während es doch schon vor 125 Jahren in Frankreich Männer gab, die wirklich „revolutionäre Demokraten“ waren, die wirklich davon überzeugt waren, daß sie ihrerseits einen gerechten Krieg, einen Verteidigungskrieg führen, die sich wirklich auf die Volksmassen stützten, die diese Überzeugung aufrichtig teilten, Männer, die es verstanden, eine revolutionäre Kontrolle über die Reichen einzuführen und Resultate zu erzielen, die die Bewunderung der ganzen Welt hervorriefen. In den verflossenen 125 Jahren aber hat die Entwicklung des Kapitalismus durch die Schaffung von Banken, Syndikaten, Eisenbahnen usw. usf. die Maßnahmen, die für eine wirklich demokratische Kontrolle durch die Arbeiter und Bauern über die Ausbeuter, die Gutsbesitzer und Kapitalisten notwendig sind, hundertfach erleichtert und vereinfacht.

Im Grunde genommen läuft die ganze Frage der Kontrolle darauf hinaus, wer wen kontrolliert, d. h. welche Klasse die kontrollierende und welche die kontrollierte ist. Bei uns, im republikanischen Rußland, wird bisher, unter Beteiligung der „rechtmäßigen Organe“ der quasirevolutionären Demokratie, den Gutsbesitzern und Kapitalisten die Rolle der Kontrolleure zuerkannt und belassen. Die unausbleibliche Folge davon ist das Marodieren der Kapitalisten, das die allgemeine Empörung des Volkes hervorruft, und die Zerrüttung, die von den Kapitalisten künstlich gefördert wird. Man muß entschieden und unwiderruflich, ohne sich, zu fürchten, mit dem Alten brechen., ohne sich zu fürchten, kühn Neues aufbauen, zur Kontrolle über die Gutsbesitzer und Kapitalisten durch die Arbeiter und Bauern übergehen. Das aber fürchten unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki mehr als das Feuer.
 

Die Zwangsvereinigung in Verbänden

Die Zwangssyndizierung, d. h. die Zwangsvereinigung in Verbänden, z. B. der Industriellen, wurde bereits praktisch in Deutschland angewandt. Auch das ist nichts Neues. Auch hier sehen wir, verschuldet durch die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, ein vollständiges Stagnieren des republikanischen Rußlands, das diese wenig ehrenwerten Parteien mit einer Quadrille „unterhalten“, die sie mit den Kadetten oder den Bublikow oder mit Tereschtschenko und Kerenski tanzen.

Die Zwangssyndizierung ist einerseits eine Art Vorantreiben der kapitalistischen Entwicklung durch den Staat, die überall zur Organisierung des Klassenkampfes, zur Erhöhung der Zahl, der Mannigfaltigkeit und der Bedeutung der Verbände führt. Anderseits aber ist die zwangsweise „Verbandsbildung“ die unerläßliche Vorbedingung für jede halbwegs ernsthafte Kontrolle und jede Einsparung an Volksarbeit.

Das deutsche Gesetz verpflichtet zum Beispiel die Lederfabrikanten einer bestimmten Gegend oder des ganzen Reiches, sich zu einem Verband zusammenzuschließen, wobei zur Kontrolle ein Vertreter des Staates dem Vorstand dieses Verbandes angehört. Ein derartiges Gesetz berührt unmittelbar, d. h. an und für sich, die Eigentumsverhältnisse nicht im geringsten, es nimmt keinem einzigen Eigentümer auch nur eine Kopeke, durch dieses Gesetz wird auch noch nicht darüber entschieden, ob Form, Richtung und Geist der Kontrolle reaktionär-bürokratisch oder revolutionär-demokratisch sein werden.

Derartige Gesetze könnte und sollte man auch bei uns sofort erlassen, ohne auch nur eine Woche kostbarer Zeit zu verlieren, wobei man es den gesellschaftlichen Umständen selbst überlassen könnte, die konkreteren Formen der Durchführung des Gesetzes, das Tempo seiner Durchführung, die Methoden zur Überwachung seiner Durchführung usw. zu bestimmen. Der Staat braucht hier weder einen besonderen Apparat noch besondere Forschungen oder irgendwelche vorhergehenden Untersuchungen, um ein solches Gesetz zu erlassen; notwendig ist nur die Entschlossenheit, sich über gewisse Privatinteressen der Kapitalisten hinwegzusetzen, die eine solche Einmischung „nicht gewohnt“ sind und die ihre Extraprofite nicht verlieren wollen, für deren Sicherung außer dem Fehlen einer Kontrolle auch das Wirtschaften nach alter Manier Gewähr bietet.

Man braucht keinerlei Apparat und keinerlei „Statistik“ (durch die Tschernow die revolutionäre Initiative der Bauernschaft ersetzen wollte), um ein solches Gesetz zu erlassen, denn seine Durchführung muß den Fabrikanten oder Industriellen selbst, muß den vorhandenen gesellschaftlichen Kräften übertragen werden, unter der Kontrolle der ebenfalls vorhandenen gesellschaftlichen (d. h. nicht der behördlichen, der bürokratischen) Kräfte, die jedoch unbedingt den sogenannten „niederen Ständen“, d. h. den unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, angehören müssen, die sich in der Geschichte in bezug auf ihre Fähigkeit zu Heroismus, Selbstaufopferung und kameradschaftlicher Disziplin stets als unermeßlich höherstehend erwiesen haben als die Ausbeuter.

Angenommen, wir hätten eine wirklich revolutionär-demokratische Regierung und sie würde beschließen: Alle Fabrikanten und Industriellen jedes Produktionszweiges sind verpflichtet, wenn sie, sagen wir, mindestens zwei Arbeiter beschäftigen, sich sofort nach Kreisen und Gouvernements in Verbänden zu vereinigen. Die Verantwortung für die strikte Durchführung des Gesetzes wird in erster Linie den Fabrikanten und Direktoren, den Vorstandsmitgliedern und den Großaktionären auferlegt (denn sie alle sind die wirklichen Führer der modernen Industrie, ihre tatsächlichen Herren). Wenn sie sich der Arbeit an der sofortigen Durchführung des Gesetzes entziehen, werden sie wie Leute behandelt, die vom Militärdienst desertiert sind, und auch wie solche bestraft, werden sie solidarisch, alle für einen und einer für alle, mit ihrem gesamten Vermögen haftbar gemacht. Ferner wird die Verantwortung auch allen Angestellten, die gleichfalls verpflichtet sind, einen Verband zu bilden, sowie allen Arbeitern und ihrer Gewerkschaft auferlegt. Der Zweck der „Verbandsbildung“ ist, eine vollständige, sehr strenge und genaue Rechenschaftslegung einzuführen, vor allem aber die Operationen beim Einkauf der Rohstoffe und beim Absatz der Erzeugnisse zusammenzufassen und Mittel sowie Kräfte des Volkes einzusparen. Diese Einsparungen durch die Vereinigung der einzelnen Unternehmen zu einem Syndikat erreichen, wie die ökonomische Wissenschaft lehrt und das Beispiel aller Syndikate, Kartelle und Trusts zeigt, ein kolossales Ausmaß. Dabei muß noch einmal wiederholt werden, daß durch diese Vereinigung zu einem Syndikat an den Eigentumsverhältnissen an und für sich kein Jota geändert und keinem Eigentümer auch nur eine einzige Kopeke weggenommen wird. Dieser Umstand muß besonders nachdrücklich hervorgehoben werden, denn die bürgerliche Presse „schreckt“ die kleinen und mittleren Eigentümer ständig damit, die Sozialisten überhaupt und die Bolschewiki im besonderen wollten sie „expropriieren“: eine offenkundig erlogene Behauptung, da die Sozialisten sogar bei einer vollen sozialistischen Umwälzung die Kleinbauern weder expropriieren wollen noch können noch werden. Wir sprechen die ganze Zeit nur von den nächsten und dringendsten Maßnahmen, die in Westeuropa bereits durchgeführt worden sind und die eine halbwegs konsequente Demokratie unverzüglich auch bei uns durchführen müßte, um die drohende, unabwendbare Katastrophe zu bekämpfen.

Ernste Schwierigkeiten, sowohl technischer wie kultureller Art, würde die Vereinigung der kleinsten und kleinen Eigentümer in Verbänden bereiten, und zwar wegen der außerordentlichen Zersplitterung ihrer Betriebe und deren technischer Primitivität, wegen des Analphabetentums oder der mangelnden Bildung der Besitzer. Doch gerade diese Betriebe könnten vom Gesetz ausgenommen werden (wie bereits oben in dem von uns angenommenen Beispiel erwähnt), und ihre Nichtvereinigung, schon ganz abgesehen von ihrer verzögerten Vereinigung, könnte kein ernstes Hindernis bilden, denn die Rolle, die die ungeheure Anzahl der Kleinbetriebe in der Gesamtsumme der Produktion spielt, ihre Bedeutung für die Volkswirtschaft als Ganzes ist verschwindend klein, und außerdem sind sie oft in der einen oder anderen Weise von den Großbetrieben abhängig.

Von entscheidender Bedeutung sind nur die Großbetriebe, und hier sind die technischen und kulturellen Mittel und Kräfte zur „Verbandsbildung“ vorhanden; es fehlt nur an der festen, entschlossenen, den Ausbeutern gegenüber schonungslos harten Initiative der revolutionären Staatsmacht, um diese Mittel und Kräfte in Bewegung zu setzen.

Je ärmer ein Land an technisch gebildeten und überhaupt an intellektuellen Kräften ist, desto dringender ist die Notwendigkeit, möglichst rasch und entschlossen die Zwangsvereinigung zu verfügen und mit ihrer Durchführung bei den größten und Großbetrieben anzufangen, denn gerade durch die Vereinigung werden intellektuelle Kräfte eingespart, und es wird möglich, diese Kräfte voll und ganz auszunutzen und richtiger zu verteilen. Wenn sogar die russische Bauernschaft in ihren weltverlorenen Dörfern unter der Zarenregierung – wo sie gegen Tausende von dieser Regierung errichtete Hindernisse ankämpfen mußte – vermocht hat, nach dem Jahre 1905 einen gewaltigen Schritt vorwärts zu tun und Verbände aller Art zu schaffen, so könnte begreiflicherweise die Vereinigung der großen und mittleren Industrie und des Handels in einigen Monaten, wenn nicht noch schneller, durchgeführt werden, vorausgesetzt, daß in dieser Richtung Zwang ausgeübt wird von einer wirklich revolutionär-demokratischen Regierung, die sich auf die Unterstützung, die Beteiligung, die Interessiertheit und die Belange der „unteren Schichten“, der Demokratie, der Angestellten und Arbeiter, stützt und diese zur Kontrolle aufruft.
 

Regulierung des Verbrauchs

Der Krieg hat alle kriegführenden und viele neutrale Staaten gezwungen, zur Regulierung des Verbrauchs überzugehen. Die Brotkarte erblickte das Licht der Welt, sie wurde zu einer gewohnten Erscheinung und zog die Einführung anderer Lebensmittelkarten nach sich. Rußland blieb nicht abseits und führte ebenfalls die Brotkarte ein.

Aber gerade an diesem Beispiel können wir wohl am anschaulichsten die reaktionär-bürokratischen Methoden des Kampfes gegen die Katastrophe, die darauf angelegt sind, sich auf ein Minimum an Reformen zu beschränken, mit den revolutionär-demokratischen Methoden vergleichen, die, um ihrem Namen gerecht zu werden, direkt die Aufabe haben müssen, mit dem überlebten Alten gewaltsam zu brechen und die Vorwärtsbewegung möglichst zu beschleunigen.

Die Brotkarte, dieses typische Musterbeispiel der Regulierung des Verbrauchs in den modernen kapitalistischen Staaten, hat die Aufgabe und erzielt (im besten Falle) das eine: die vorhandene Brotmenge so zu verteilen, daß sie für alle reicht. Es wird ein Höchstverbrauch bei weitem nicht für alle, sondern nur für die wichtigsten „volksüblichen“ Produkte festgesetzt. Das ist alles. Um mehr kümmert man sich nicht. Bürokratisch werden die vorhandenen Getreidevorräte berechnet und auf den Kopf der Bevölkerung verteilt, es wird eine Norm festgesetzt und eingeführt, und damit ist die Sache erledigt. Luxusgüter werden nicht angetastet, denn es gibt „sowieso“ nur wenig davon, und sie sind „ohnehin“ so teuer, daß sie für das „Volk“ unerschwinglich sind. Deshalb sehen wir in ausnahmslos allen kriegführenden Ländern, sogar in Deutschland – das man wohl, ohne auf Widerspruch zu stoßen, als Musterbeispiel für eine überaus gründliche, pedantische und strenge Regulierang des Verbrauchs bezeichnen kann –, sogar in Deutschland sehen wir, daß alle wie immer gearteten „Normen“ des Verbrauchs von den Reichen ständig umgangen werden. Das wissen ebenfalls „alle“, darüber wird ebenfalls von „allen“ schmunzelnd gesprochen, und man kann in der deutschen sozialistischen und mitunter sogar in der bürgerlichen Presse immer wieder, trotz des Wütens der kasernenhofmäßig strengen deutschen Zensur, auf Notizen und Meldungen stoßen, in denen von den „Menüs“ der Reichen und auch von dem Weißbrot berichtet wird, das die Reichen in dem Badeort Soundso in beliebigen Mengen erhalten (dorthin reisen als angeblich Kranke alle ..., die viel Geld haben), ferner davon, daß die Reichen die einfachen volksüblichen Produkte durch auserlesene und seltene Luxuswaren ersetzen.

Der reaktionäre kapitalistische Staat, der Angst hat, die Grundfesten des Kapitalismus, die Grundfesten der Lohnsklaverei, die Grundfesten der ökonomischen Herrschaft der Reichen könnten untergraben werden, der Angst davor hat, die Aktivität der Arbeiter und überhaupt der Werktätigen zu fördern, der Angst davor hat, ihre Ansprüche zu „entfachen“ – ein solcher Staat braucht nichts weiter als die Brotkarte. Ein solcher Staat läßt keinen Augenblick, bei keinem seiner Schritte das reaktionäre Ziel aus den Augen: den Kapitalismus zu festigen, seine Untergrabung zu verhindern, die „Regulierung des Wirtschaftslebens“ im allgemeinen und die Regulierung des Verbrauchs im besonderen nur auf solche Maßnahmen zu beschränken, die unbedingt notwendig sind, um das Volk eben zu erhalten, ohne auch nur im entferntesten danach zu trachten, eine wirkliche Regulierung des Verbrauchs im Sinne der Kontrolle über die Reichen einzuführen, in dem Sinne nämlich, daß diesen in Friedenszeiten Bessersituierten, Privilegierten, Satten und Übersättigten während des Krieges größere Lasten auferlegt würden.

Die reaktionär-bürokratische Lösung der Aufgabe, die den Völkern durch den Krieg gestellt worden ist, beschränkt sich auf die Brotkarte, auf die gleichmäßige Verteilung der für die Ernährung des „Volkes“ absolut notwendigen Produkte, ohne auch nur um Haaresbreite vom Bürokratismus und vom reaktionären Geist abzuweichen, nämlich von dem Ziel: keinesfalls die Aktivität der Armen, des Proletariats, der Masse des Volkes (des „Demos“) zu fördern, keinesfalls eine Kontrolle ihrerseits über die Reichen zuzulassen und möglichst viele Hintertürchen offenzulassen, damit die Reichen sich durch Luxusgüter schadlos halten können. In allen Ländern, sogar, wir wiederholen es, in Deutschland – von Rußland schon gar nicht zu reden –, sind eine Unmenge Hintertürchen offengelassen worden, hungert das „einfache Volk“, während die Reichen in Badeorte reisen und die kärgliche staatliche Ration durch allerlei „Zulagen“ von anderswo ergänzen und nicht zulassen, daß man sie kontrolliert.

In Rußland, das eben erst die Revolution gegen den Zarismus im Namen der Freiheit und Gleichheit vollbracht hat, in Rußland, das mit einem Schlag seinen bestehenden politischen Institutionen nach eine demokratische Republik geworden ist, fällt die allen sichtbare Leichtigkeit, mit der die Reichen die „Brotkarten“ umgehen, dem Volke besonders auf und ruft ganz besondere Unzufriedenheit, Erregung, Erbitterang und Empörung unter den Massen hervor. Es ist das außerordentlich leicht. „Unter der Hand“ und zu ungemein hohen Preisen, besonders „bei Beziehungen“ (die haben nur die Reichen), ist alles und in großen Mengen zu bekommen. Das Volk aber hungert. Die Regulierung des Verbrauchs ist auf den engsten, bürokratisch-reaktionären Rahmen beschränkt. Die Regierung macht sich nicht im mindesten Gedanken, ist nicht im geringsten bemüht, diese Regulierung auf einer wirklich revolutionär-demokratischen Grundlage zu organisieren.

Unter dem Schlangestehen leiden „alle“, aber ... aber die Reichen schicken ihre Dienstboten zum Schlangestehen und stellen dafür sogar besondere Dienstboten an! Da habt ihr den „Demokratismus“!

Eine revolutionär-demokratische Politik würde sich in Zeiten, da das Land unerhörte Leiden durchmacht, nicht mit Brotkarten begnügen, um die herannahende Katastrophe zu bekämpfen, sondern würde darüber hinaus erstens die Zwangsvereinigung der gesamten Bevölkerung in Konsumgenossenschaften herbeiführen, denn ohne eine solche Vereinigung kann die Kontrolle des Verbrauchs nicht lückenlos durchgeführt werden; sie würde zweitens die Arbeitspflicht für die Reichen einführen und die Reichen, ohne sie zu entlohnen, in den Konsumgenossenschaften mit Sekretärarbeiten oder anderen, ähnlichen Arbeiten beschäftigen; drittens würde sie für eine gleichmäßige Verteilung wirklich aller Verbrauchsgüter unter der Bevölkerung sorgen, damit die Lasten des Krieges tatsächlich gleichmäßig verteilt werden; viertens würde sie die Kontrolle so organisieren, daß die armen Klassen der Bevölkerung den Verbrauch der Reichen kontrollieren.

Auf diesem Gebiet wirklichen Demokratismus durchzusetzen und bei der Organisierung der Kontrolle gerade durch die am meisten darbenden Klassen des Volkes auf wirklich revolutionäre Weise vorzugehen, das wäre der denkbar größte Ansporn zur Anspannung aller vorhandenen intellektuellen Kräfte, zur Entfachung der wirklich revolutionären Energie des ganzen Volkes. Jetzt gebrauchen zwar die Minister des republikanischen und revolutionär-demokratischen Rußlands, genauso wie ihre Kollegen in allen übrigen imperialistischen Ländern, hochtrabende Worte über „gemeinsame Arbeit zum Wohle des Volkes“, über „Anspannung aller Kräfte“, doch sieht, spürt und empfindet gerade das Volk das Heuchlerische dieser Worte.

So ergibt es sich, daß man nicht vom Fleck kommt, daß der Zerfall unaufhaltsam vorwärtsschreitet, daß die Katastrophe herannaht, denn ein Militärzuchthaus für die Arbeiter à la Kornilow, à la Hindenburg, nach allgemeinem imperialistischem Muster kann unsere Regierung nicht einführen – noch sind die Traditionen und Erinnerungen, die Spuren, die Gewohnheiten und die Einrichtungen der Revolution im Volke zu lebendig; wirklich ernsthafte Schritte auf dem revolutionär-demokratischen Wege jedoch will unsere Regierung nicht unternehmen, denn sie ist ganz und gar, von oben bis unten, in das Abhängigkeitsverhältnis zur Bourgeoisie verstrickt, in die „Koalition“ mit ihr, sie hat Angst, die tatsächlichen Privilegien der Bourgeoisie anzutasten.
 

Die Regierung vereitelt die Arbeit der demokratischen Organisationen

Wir haben die verschiedenen Mittel und Methoden des Kampfes gegen die Katastrophe und den Hunger untersucht. Wir haben überall die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der Demokratie einerseits und der Regierung samt dem sie stützenden Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki anderseits gesehen. Um zu beweisen, daß diese Gegensätze in Wirklichkeit und nicht nur in unserer Darstellung existieren und daß sich ihre Unüberbrückbarkeit tatsächlich in Konflikten äußert, die für das ganze Volk Bedeutung haben, dazu genügt es, an zwei besonders typische „Ergebnisse“ und Lehren der halbjährigen Geschichte unserer Revolution zu erinnern.

Die eine Lehre ist die Geschichte der „Herrschaft“ Paltschinskis, die andere die Geschichte der „Herrschaft“ und des Sturzes Peschechonows. Im Grunde genommen laufen die oben geschilderten Maßnahmen zur Bekämpfung der Katastrophe und des Hungers auf eine allseitige (bis zum Zwang gehende) Förderung des Zusammenschlusses der Bevölkerung in Verbänden hinaus, in erster Linie der Demokratie, d. h. der Mehrheit der Bevölkerung, vor allem also der unterdrückten Klassen, der Arbeiter und der Bauern, besonders der armen. Und diesen Weg hat die Bevölkerung selbst ganz spontan beschriften, um gegen die unerhörten Schwierigkeiten, Lasten und Drangsale des Krieges zu kämpfen.

Der Zarismus hatte auf jede erdenkliche Art den selbständigen und freien Zusammenschluß der Bevölkerung in Verbänden behindert. Doch nach dem Sturz der Zarenmonarchie begannen in ganz Rußland demokratische Organisationen zu entstehen und rasch zu wachsen. Aus eigenem Antrieb der Bevölkerung gebildete demokratische Organisationen, Versorgungskomitees aller Art, Ernährungskomitees, Konferenzen über Brennstoffprobleme und so weiter und dergleichen mehr nahmen den Kampf gegen die Katastrophe auf.

Nun besteht das Bemerkenswerteste an der ganzen halbjährigen Geschichte unserer Revolution in der vorliegenden Frage darin, daß die Regierung, die sich republikanisch und revolutionär nennt, die Regierung, die von den Menschewiki und Sozialrevolutionären im Namen der „bevollmächtigten Organe der revolutionären Demokratie“ unterstützt wird, daß diese Regierung gegen die demokratischen Organisationen gekämpft und sie niedergekämpft hat!!

Paltschinski hat es durch diesen Kampf zu einer sehr traurigen und in ganz Rußland bekannt gewordenen Berühmtheit gebracht. Er versteckte sich bei seinen Handlungen hinter dem Rücken der Regierung, trat nicht offen vor das Volk hin (genauso wie die Kadetten im allgemeinen, die es vorzogen, „fürs Volk“ Zereteli in den Vordergrund zu schieben, alle wichtigen Geschäfte aber im stillen selbst erledigten). Paltschinski hemmte und sabotierte jede ernsthafte Maßnahme der von der Bevölkerung gebildeten demokratischen Organisationen, denn keine einzige ernsthafte Maßnahme konnte durchgeführt werden, ohne dabei den maßlosen Profiten und der Willkür der Kit Kitytsch „Abbruch zu tun“. Paltschinski aber war gerade ein treuer Anwalt und Diener der Kit Kitytsch, Es kam so weit – und diese Tatsache wurde in der Presse bekanntgegeben –, daß Paltschinski direkt die Anordnungen dieser demokratischen Organisationen aufhob!!

Die ganze Geschichte der „Herrschaft“ Paltschinskis – er „herrschte“ viele Monate lang und gerade zu der Zeit, als Zereteli, Skobelew und Tschernow „Minister“ waren – ist ein einziger, unerhörter Skandal, ein Hintertreiben des Volkswillens und der Beschlüsse der Demokratie, zu Nutz und Frommen der Kapitalisten, um der schmutzigen Gewinnsucht der Kapitalisten willen. Die Zeitungen konnten natürlich nur einen verschwindend kleinen Teil der „Heldentaten“ Paltschinskis bekanntgeben; die volle Untersuchung der Art, wie er den Kampf gegen den Hunger behinderte, wird nur eine wahrhaft demokratische Regierung, die Regierung des Proletariats vornehmen können, wenn dieses die Macht erobert hat und den Fall Paltschinski und seinesgleichen, ohne etwas zu verheimlichen, dem Gericht des Volkes unterbreiten wird.

Man wird vielleicht einwenden, daß Paltschinski doch eine Ausnahme gewesen sei und daß man ihn ja entfernt habe... Aber das ist es ja eben, daß Paltschinski keine Ausnahme, sondern die Regel ist, daß sich durch die Entfernung Paltschinskis nichts gebessert hat, daß an seine Stelle ebensolche Paltschinski mit anderen Namen getreten sind, daß der ganze „Einfluß“ der Kapitalisten, die ganze Politik der Hintertreibung des Kampfes gegen die Hungersnot zu ihrem Nutz und Frommen unangetastet geblieben ist. Denn Kerenski und Co. sind nur eine Kulisse zum Schütze der Interessen der Kapitalisten.

Der anschaulichste Beweis dafür ist das Ausscheiden Peschechonows, des Ernährungsministers, aus dem Kabinett. Wie bekannt, ist Peschechonow ein sehr, sehr gemäßigter Volkstümler. Doch wollte er bei der Organisierung des Ernährungswesens gewissenhaft und in Verbindung mit den demokratischen Organisationen arbeiten, wollte sich auf diese stützen. Um so interessanter ist die Erfahrung aus der Tätigkeit Peschechonows sowie sein Rücktritt und die Tatsache, daß dieser äußerst gemäßigte Volkstümler, Mitglied der Partei der „Volkssozialisten“, der zu jedem Kompromiß mit der Bourgeoisie bereit war, sich dennoch zum Rücktritt gezwungen sah! Denn die Kerenskiregierung hat zum Nutzen der Kapitalisten, Gutsbesitzer und Kulaken die Festpreise für Getreide erhöht!!

Folgendermaßen schildert M. Smit in der Zeitung Swobodnaja Shisn [2] Nr. 1 vom 2. September diesen „Schritt“ und seine Bedeutung:

„Einige Tage, bevor die Regierung die Erhöhung der Festpreise beschloß, spielte sich im Staatlichen Ernährungskomitee folgende Szene ab: Der Vertreter der Rechten, Rolowitsch, ein zäher Verteidiger der Interessen des Privathandels und ein verbissener Feind des Getreidemonopols und der staatlichen Einmischung in das Wirtschaftsleben, erklärte mit selbstgefälligem Lächeln vor allen Anwesenden, daß nach seinen Informationen die Festpreise für Getreide bald erhöht würden.

Der Vertreter des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten erwiderte darauf, daß ihm etwas Derartiges nicht bekannt sei. daß eine solche Maßnahme keinesfalls durchgeführt werden könne, solange in Rußland die Revolution andauert, und daß die Regierung jedenfalls nicht zu einer solchen Maßnahme greifen könne, ohne sich vorher mit den rechtmäßigen Organen der Demokratie, dem Wirtschaftsrat und dem Staatlichen Ernährungskomitee, beraten zu haben. Dieser Erklärung schloß sich auch der Vertreter des Sowjets der Bauerndeputierten an.

Aber ach! Die Wirklichkeit korrigierte diese Kontroverse überaus grausam: Recht behielten nicht die Vertreter der Demokratie, sondern recht behielt der Vertreter der Zensuselemente. Er war ausgezeichnet unterrichtet über den Anschlag, der auf die Rechte der Demokratie vorbereitet wurde, obwohl deren Vertreter die bloße Möglichkeit eines solchen Anschlags mit Entrüstung zurückwiesen.“

Sowohl der Vertreter der Arbeiter als auch der Vertreter der Bauernschaft bringen also in unzweideutiger Weise ihre Meinung im Namen der gewaltigen Mehrheit des Volkes zum Ausdruck, die Kerenskiregierung aber handelt umgekehrt, im Interesse der Kapitalisten!

Rolowitsch, der Vertreter der Kapitalisten, war hinter dem Rücken der Demokratie glänzend unterrichtet – genauso wie wir stets beobachten konnten und auch jetzt beobachten, daß die bürgerlichen Zeitungen, die Retsch und die Birshowka, aufs beste darüber unterrichtet sind, was in der Kerenskiregierung vor sich geht.

Worauf weist diese ausgezeichnete Informiertheit hin? Selbstverständlich auf die Tatsache, daß die Kapitalisten ihre eigenen „Hintertürchen“ haben und faktisch die Macht in ihren Händen halten. Kerenski ist der Strohmann, den sie dann und dort vorschieben, wann und wo sie das für nötig halten. Die Interessen von Dutzenden Millionen Arbeitern und Bauern werden den Profiten einer Handvoll Geldsäcke geopfert.

Wie antworten nun unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki auf diese empörende Verhöhnung des Volkes? Haben sie sich vielleicht mit einem Aufruf an die Arbeiter und Bauern gewandt, daß Kerenski und seine Kollegen nach alledem nur noch ins Gefängnis gehören?

Gott bewahre! Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, in Gestalt der in ihren Händen befindlichen „Ökonomischen Abteilung“, haben sich darauf beschränkt, eine drohende Resolution anzunehmen, die wir bereits erwähnt haben! In dieser Resolution erklären sie, daß die Erhöhung der Getreidepreise durch die Kerenskiregierung „eine verhängnisvolle Maßnahme ist, die sowohl dem Ernährungswesen wie auch dem ganzen Wirtschaftsleben des Landes einen überaus schweren Schlag versetzt“, und daß diese verhängnisvolle Maßnahme unter direkter „Verletzung“ des Gesetzes durchgeführt wurde!!

Das sind die Resultate der Politik des Paktierens, der Politik des Liebäugelns mit Kerenski und des Bestrebens, ihn zu „schonen“!

Die Regierung verletzt das Gesetz, indem sie zu Nutz und Frommen der Reichen, der Gutsbesitzer und Kapitalisten, eine Maßnahme trifft, die sich auf die ganze Kontrolle, das Ernährungswesen und die Sanierung der aufs äußerste zerrütteten Finanzen verhängnisvoll auswirkt – und die Sozialrevolutionäre und Menschewiki fahren fort, von Verständigung mit den Handels- und Industriekreisen zu sprechen, fahren fort, an den Beratungen mit Tereschtschenko teilzunehmen und Kerenski zu schonen, sie begnügen sich mit einer papiernen Protestresolution, die von der Regierung seelenruhig zu den Akten gelegt wird!!

Gerade hier offenbart sich besonders anschaulich die Wahrheit, daß die Sozialrevolutionäre und Menschewiki das Volk und die Revolution verraten haben und daß zum wirklichen Führer der Massen, sogar der Sozialrevolutionären und menschewistischen Massen, die Bolschewiki werden.

Denn einzig und allein, wenn das Proletariat, an seiner Spitze die Partei der Bolschewiki, die Macht erobert, könnte dem skandalösen Treiben der Kerenski und Co. ein Ende gesetzt und die Arbeit der demokratischen Organisationen für Ernährung, Versorgung usw., die von Kerenski und seiner Regierung vereitelt wird, wieder in Gang gebracht werden.

Die Bolschewiki – das angeführte Beispiel zeigt es mit aller Deutlichkeit – handeln als Vertreter der Interessen des gesamten Volkes, handeln im Interesse der Sicherung von Ernährung und Versorgung und der Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Arbeiter und Bauern entgegen der schwankenden, unentschlossenen, wahrhaft verräterischen Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die dem Land solche Schmach einbrachte wie die Erhöhung der Getreidepreise!
 

Der finanzielle Zusammenbruch und die Maßnahmen dagegen

Die Erhöhung der Festpreise für Getreide hat noch eine andere Seite. Diese Erhöhung bedeutet eine weitere chaotisch zunehmende Emission von Papiergeld, einen weiteren Schritt im Prozeß der zunehmenden Teuerung, eine verschärfte Zerrüttung der Finanzen und ein Näherrücken des finanziellen Zusammenbruchs. Alle geben zu, daß die erhöhte Emission von Papiergeld die schlimmste Form einer Zwangsanleihe ist, daß sie die Lage vor allem gerade der Arbeiter, des ärmsten Teils der Bevölkerung, verschlechtert, daß sie das Hauptübel unter den Mißständen im Finanzwesen ist.

Und gerade zu dieser Maßnahme greift die von den Sozialrevolutionären und Menschewiki gestützte Kerenskiregierung!

Zur ernsthaften Bekämpfung der finanziellen Zerrüttung und des unvermeidlichen finanziellen Zusammenbruchs gibt es keinen andern Weg als den revolutionären Bruch mit den Interessen des Kapitals und die Organisierung einer wirklich demokratischen Kontrolle, d. h. einer Kontrolle „von unten“, einer Kontrolle der Arbeiter und armen Bauern über die Kapitalisten – gibt es nur den Weg, von dem in unserer ganzen bisherigen Darlegung die Rede ist.

Die unbegrenzte Emission von Papiergeld begünstigt die Spekulation, ermöglicht es den Kapitalisten, an Spekulationen Millionen zu verdienen und stellt der so notwendigen Erweiterung der Produktion die größten Schwierigkeiten in den Weg, denn die Verteuerung der Rohstoffe, der Maschinen usw. nimmt zu, nimmt sprunghaft zu. Wie kann man Abhilfe schaffen, wenn die durch Spekulation erworbenen Vermögen der Reichen verheimlicht werden?

Man kann eine Einkommensteuer mit progressiv steigenden und für die großen und größten Einkommen sehr hohen Sätzen einführen. Unsere Regierung hat, den anderen imperialistischen Regierungen folgend, diese Steuer eingeführt. Aber sie bleibt in bedeutendem Maße eine Fiktion, bleibt toter Buchstabe, denn erstens sinkt der Wert des Geldes immer rascher, und zweitens werden um so mehr Einkünfte verheimlicht, je mehr die Spekulation die Quelle dieser Einkünfte bildet und je zuverlässiger das Geschäftsgeheimnis gehütet wird.

Damit diese Steuer wirksam wird und nicht fiktiv bleibt, ist eine wirkliche, nicht nur auf dem Papier stehende Kontrolle notwendig. Die Kontrolle über die Kapitalisten ist aber unmöglich, wenn sie bürokratisch bleibt, denn die Bürokratie ist selbst durch tausend Fäden mit der Bourgeoisie verbunden und verflochten. Deshalb wird in den westeuropäischen imperialistischen Staaten, gleichviel, ob es Monarchien oder Republiken sind, die Regelung der Finanzen nur dadurch erreicht, daß eine „Arbeitsdienstpflicht“ eingeführt wird, die den Arbeitern ein Militärzuchthaus oder die Militärsklaverei bringt.

Die reaktionär-bürokratische Kontrolle – das ist das einzige Mittel, das die imperialistischen Staaten kennen, die demokratischen Republiken, Frankreich und Amerika, nicht ausgenommen, um die Lasten des Krieges auf das Proletariat und die werktätigen Massen abzuwälzen.

Der grundlegende Widerspruch unserer Regierungspolitik besteht gerade darin, daß man – um sich mit der Bourgeoisie nicht zu überwerfen, um die „Koalition“ mit ihr nicht in die Brüche gehen zu lassen – eine reaktionär-bürokratische Kontrolle durchführen muß, sie aber „revolutionär-demokratische“ Kontrolle nennt, das Volk auf Schritt und Tritt betrügt und die Massen, die eben erst den Zarismus gestürzt haben, verärgert und erbittert.

Indes würden eben nur revolutionär-demokratische Maßnahmen – durch die gerade die unterdrückten Klassen, die Arbeiter und Bauern, gerade die Massen in Verbänden zusammengeschlossen werden – die Möglichkeit geben, eine äußerst wirksame Kontrolle über die Reichen einzurichten und erfolgreich den Kampf gegen die Verheimlichung der Einkünfte zu führen.

Man bemüht sich, den Scheckverkehr zu fördern, um dadurch der überhöhten Emission von Papiergeld zu steuern. Für die Armen hat diese Maßnahme keine Bedeutung, denn die Armen leben sowieso von der Hand in den Mund, der „wirtschaftliche Kreislauf“ vollendet sich bei ihnen sowieso jede Woche, jede Woche geben sie den Kapitalisten ihre kargen, schwer verdienten Groschen zurück. Für die Reichen könnte der Scheckverkehr von größter Bedeutung sein, er würde dem Staat, besonders in Verbindung mit Maßnahmen wie der Nationalisierung der Banken und der Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses, die Möglichkeit geben, die Einkünfte der Kapitalisten wirklich zu kontrollieren, ihnen wirklich Steuern aufzuerlegen, das Finanzsystem wirklich zu „demokratisieren“ (und es zugleich auch in Ordnung zu bringen).

Aber das Hindernis besteht hier eben in der Angst, die Privilegien der Bourgeoisie anzutasten, die „Koalition“ mit ihr zu sprengen. Denn ohne wahrhaft revolutionäre Maßnahmen, ohne ernstlichen Zwang werden sich die Kapitalisten keiner Kontrolle unterwerfen, werden sie ihre Budgets nicht bekanntgeben und ihr vorrätiges Papiergeld dem demokratischen Staat nicht „auf Verrechnung“ überlassen.

Die in Verbänden zusammengeschlossenen Arbeiter und Bauern könnten dadurch, daß sie die Banken nationalisieren, daß sie für alle Reichen einen gesetzlich vorgeschriebenen Scheckverkehr einführen, daß sie das Geschäftsgeheimnis aufheben und die Verheimlichung von Einkünften mit der Beschlagnahme des Vermögens ahnden u. dgl. m., außerordentlich leicht die Kontrolle wirksam und universal gestalten, sie zu einer Kontrolle eben über die Reichen machen, zu einer Kontrolle, die bewirkt, daß das von der Staatskasse ausgegebene Papiergeld wieder in diese zurückfließt, und zwar aus den Händen derer, die es haben, derer, die es verstecken.

Dazu ist die revolutionäre Diktatur der Demokratie notwendig, an deren Spitze das revolutionäre Proletariat steht, d. h., dazu muß die Demokratie in der Tat revolutionär werden. Das ist der ganze Kern der Sache. Das eben wollen unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht, die das Volk unter der Flagge der „revolutionären Demokratie“ betrügen und in Wirklichkeit die reaktionär-bürokratische Politik der Bourgeoisie unterstützen, die sich, wie stets, von dem Grundsatz leiten läßt: „après nous le déluge“ – nach uns die Sintflut!

Wir merken gewöhnlich nicht einmal, wie tief sich in uns die antidemokratischen Gewohnheiten und Vorurteile hinsichtlich der „Heiligkeit“ des bürgerlichen Eigentums eingefressen haben. Wenn ein Ingenieur oder ein Bankier die Einnahmen und Ausgaben eines Arbeiters, Angaben über dessen Verdienst und über dessen Arbeitsproduktivität veröffentlicht, so wird das für höchst gesetzlich und gerecht gehalten. Keinem Menschen fällt es ein, darin einen Eingriff in das „Privatleben“ des Arbeiters, eine „Spitzelei oder Denunziaton“ durch den Ingenieur zu erblicken. Die Arbeit und den Verdienst der Lohnarbeiter betrachtet die bürgerliche Gesellschaft als ihr offenes Buch, in das jeder Bourgeois jederzeit berechtigt ist, Einsicht zu nehmen, um irgendeinen „Luxus“ des Arbeiters, seine angebliche „Faulheit“ usw. zu enthüllen.

Nun, und die umgekehrte Kontrolle? Wie wäre es, wenn der demokratische Staat die Gewerkschaften der Angestellten, der Kontoristen, der Dienstboten aufforderte, die Einnahmen und Ausgaben der Kapitalisten zu überprüfen, Angaben darüber zu veröffentlichen, die Regierung im Kampf gegen die Verheimlichung der Einkünfte zu unterstützen?

Welch ein wildes Geheul würde da die Bourgeoisie über „Spitzelei“, über „Denunziantentum“ anstimmen! Wenn die „Herrschaften“ die Dienstboten kontrollieren, wenn die Kapitalisten die Arbeiter kontrollieren, dann hält man das für ganz in Ordnung, das Privatleben des Werktätigen und Ausgebeuteten gilt nicht für unantastbar, die Bourgeoisie ist berechtigt, von jedem „Lohnsklaven“ Rechenschaft zu fordern, seine Einnahmen und Ausgaben jederzeit an die Öffentlichkeit zu zerren. Aber der Versuch der Unterdrückten, den Unterdrücker zu kontrollieren, seine Einnahmen und Ausgaben ans Licht zu bringen, seinen Luxus, selbst in Kriegszeiten, aufzudecken, wo dieser Luxus unmittelbar zur Hungersnot und dazu führt, daß die Armeen an der Front zugrunde gehen – o nein, „Spitzelei“ und „Denunziantentum“ wird die Bourgeoisie nicht dulden!

Die Frage läuft stets auf dasselbe hinaus: Die Herrschaft der Bourgeoisie ist mit wahrhaft revolutionärer, wirklicher Demokratie unvereinbar. Man kann im 20. Jahrhundert, in einem kapitalistischen Land nicht revolutionärer Demokrat sein, wenn man Angst hat, zum Sozialismus zu schreiten.
 

Kann man vorwärtsschreiten, wenn man Angst hat,
zum Sozialismus zu schreiten?

Das bisher Dargelegte kann bei einem Leser, der in den landläufigen opportunistischen Gedankengängen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki erzogen ist, leicht den folgenden Einwand hervorrufen: Die meisten der hier geschilderten Maßnahmen sind im Grunde keine demokratischen, sie sind bereits sozialistische Maßnahmen!

Dieser weitverbreitete Einwand, gang und gäbe in der bürgerlichen, Sozialrevolutionären und menschewistischen Presse (in der einen oder anderen Form), ist eine reaktionäre Verteidigung des rückständigen Kapitalismus, eine Verteidigung à la Struve. Wir seien noch nicht reif für den Sozialismus, es sei verfrüht, den Sozialismus „einzuführen“, unsere Revolution sei eine bürgerliche – also müsse man Knecht der Bourgeoisie sein (obwohl die großen bürgerlichen Revolutionäre Frankreichs vor 125 Jahren ihre Revolution durch die Anwendung des Terrors gegen alle Unterdrücker, Gutsbesitzer wie Kapitalisten, zu einer großen gemacht haben!).

Die der Bourgeoisie gegenüber so dienstbeflissenen Jammermarxisten, zu denen auch die Sozialrevolutionäre übergegangen sind und die in dieser Weise urteilen, begreifen nicht (wenn man die theoretischen Grundlagen ihrer Auffassung betrachtet), was Imperialismus ist, was kapitalistische Monopole sind, was der Staat ist und was revolutionäre Demokratie ist. Denn wer das begriffen hat, wird zugeben müssen, daß man nicht vorwärtsschreiten kann, ohne zum Sozialismus zu schreiten. Vom Imperialismus sprechen alle. Aber der Imperialismus ist nichts anderes als monopolistischer Kapitalismus.

Daß auch in Rußland der Kapitalismus monopolistisch geworden ist, davon zeugen anschaulich genug das Kohlensyndikat („Produgol“), das Eisensyndikat („Prodamet“), das Zuckersyndikat u. a. Dieses Zuckersyndikat zeigt uns augenfällig, wie der monopolistische Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus übergeht.

Und was ist der Staat? Das ist die Organisation der herrschenden Klasse, in Deutschland z. B. die der Junker und Kapitalisten. Deshalb ist das, was die deutschen Plechanow (Scheidemann, Lensch u. a.) „Kriegssozialismus“ nennen, in Wirklichkeit staatsmonopolistischer Kriegskapitalismus oder, einfacher und klarer ausgedrückt, ein Militärzuchthaus für die Arbeiter, ein militärischer Schutz für die Profite der Kapitalisten.

Nun versuche man einmal, an Stelle des junkerlich-kapitalistischen, an Stelle des gutsbesitzerlich-kapitalistischen Staates den revolutionär-demokratischen Staat zu setzen, d. h. einen Staat der in revolutionärer Weise alle Privilegien abschafft, der sich nicht davor fürchtet, auf revolutionärem Wege den Demokratismus voll und ganz zu verwirklichen. Man wird sehen, daß der staatsmonopolistische Kapitalismus in einem wirklich revolutionär-demokratischen Staate unweigerlich, unvermeidlich einen Schritt, ja mehrere Schritte zum Sozialismus hin bedeutet!

Denn wenn ein kapitalistisches Großunternehmen sich in ein Monopol verwandelt, dann bedeutet das, daß es das ganze Volk beliefert. Wenn dieses Unternehmen Staatsmonopol geworden ist, dann bedeutet das, daß der Staat (d. h. die bewaffnete Organisation der Bevölkerung, in erster Linie der Arbeiter und Bauern, revolutionären Demokratismus vorausgesetzt) den ganzen Betrieb lenkt – in wessen Interesse?

Denn der Sozialismus ist nichts anderes als der nächste Schritt vorwärts, über das staatskapitalistische Monopol hinaus. Oder mit anderen Worten: Der Sozialismus ist nichts anderes als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein.

Hier gibt es keinen Mittelweg. Der objektive Gang der Entwicklung ist derart, daß man von den Monopolen aus (und der Krieg hat deren Zahl, Rolle und Bedeutung verzehnfacht) nicht vorwärtsschreiten kann, ohne zum Sozialismus zu schreiten.

Entweder ist man tatsächlich ein revolutionärer Demokrat. Dann darf man Schritte zum Sozialismus nicht fürchten.

Oder aber man fürchtet Schritte zum Sozialismus und verurteilt sie nach Art der Plechanow, Dan und Tschernow mit der Begründung, daß unsere Revolution eine bürgerliche sei, daß man den Sozialismus nicht „einführen“ könne u. dgl. m. – und dann sinkt man unweigerlich hinab zu Kerenski, Miljukow und Kornilow, d. h., man unterdrückt in reaktionär-bürokratischer Weise die „revolutionär-demokratischen“ Bestrebungen der Arbeiter- und Bauernmassen.

Einen Mittelweg gibt es nicht.

Und darin besteht der grundlegende Widerspruch unserer Revolution. Stehenbleiben kann man nicht – weder in der Geschichte überhaupt noch besonders in Kriegszeiten. Man muß entweder vorwärtsschreiten oder zurückgehen. Vorwärtsschreiten im Rußland des 20. Jahrhunderts, das die Republik und den Demokratismus auf revolutionärem Wege erobert hat, ist unmöglich, ohne zum Sozialismus zu schreiten, ohne Schritte zum Sozialismus zu machen (Schritte, die bedingt sind und bestimmt werden durch den Stand der Technik und der Kultur: Man kann den maschinellen Großbetrieb in die bäuerliche Landwirtschaft nicht „einführen“, in der Zuckerfabrikation kann man ihn nicht abschaffen).

Hat man aber Angst vorwärtszuschreiten, so bedeutet das zurückgehen, was die Herren Kerenski zum Entzücken der Miljukow und Plechanow unter der törichten Mithilfe der Zereteli und Tschernow auch tun.

Die Dialektik der Geschichte ist gerade die, daß der Krieg, der die Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus ungeheuer beschleunigte, dadurch die Menschheit dem Sozialismus außerordentlich nahe gebracht hat.

Der imperialistische Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revolution. Und das nicht nur deshalb, weil der Krieg mit seinen Schrecken den proletarischen Aufstand erzeugt – keinerlei Aufstand kann den Sozialismus schaffen, wenn er nicht ökonomisch herangereift ist –, sondern deshalb, weil der staatsmonopolistische Kapitalismus die vollständige materielle Vorbereitung des Sozialismus, seine unmittelbare Vorstufe ist, denn auf der historischen Stufenleiter gibt es zwischen dieser Stufe und derjenigen, die Sozialismus heißt, keinerlei Zwischenstufen mehr.

*

Unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki gehen an die Frage des Sozialismus doktrinär heran, vom Standpunkt einer von ihnen auswendig gelernten und schlecht verstandenen Doktrin. Sie stellen den Sozialismus als ferne, unbekannte, dunkle Zukunft hin.

Der Sozialismus aber schaut jetzt bereits durch alle Fenster des modernen Kapitalismus auf uns; in jeder großen Maßnahme, die auf der Grundlage dieses jüngsten Kapitalismus einen Schritt vorwärts bedeutet, zeichnet sich der Sozialismus unmittelbar, in der Praxis, ab.

Was ist die allgemeine Arbeitspflicht?

Sie ist ein Schritt vorwärts auf der Grundlage des jüngsten monopolistischen Kapitalismus, ein Schritt zur Regulierung des Wirtschaftslebens in seiner Gesamtheit, nach einem bestimmten allgemeinen Plan, ein Schritt zur Einsparung von Volksarbeit, zur Verhütung der sinnlosen Vergeudung dieser Arbeit durch den Kapitalismus.

In Deutschland führen die Junker (Gutsbesitzer) und Kapitalisten die allgemeine Arbeitspflicht ein, die dann zwangsläufig zu einem Militärzuchthaus für die Arbeiter wird.

Man nehme aber dieselbe Einrichtung und denke über ihre Bedeutung in einem revolutionär-demokratischen Staat nach. Die allgemeine Arbeitspflicht, durch die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten eingeführt, reguliert und gelenkt, ist noch kein Sozialismus, aber schon kein Kapitalismus mehr. Das ist ein gewaltiger Schritt zum Sozialismus, ein derartiger Schritt, daß man – die Erhaltung der vollen Demokratie vorausgesetzt – von diesem Schritt schon nicht mehr ohne eine unerhörte Vergewaltigung der Massen zum Kapitalismus zurückkehren könnte.
 

Der Kampf gegen die Zerrüttung und der Krieg

Die Frage der Maßnahmen zur Bekämpfung der herannahenden Katastrophe führt uns zur Beleuchtung einer anderen, äußerst wichtigen Frage: zur Frage des Zusammenhangs zwischen Innenpolitik und Außenpolitik oder, anders ausgedrückt, des Verhältnisses zwischen einem imperialistischen Eroberungskrieg und einem revolutionären, proletarischen Krieg, zwischen einem verbrecherischen Raubkrieg und einem gerechten demokratischen Krieg.

Alle von uns geschilderten Maßnahmen zur Bekämpfung der Katastrophe würden, wie wir bereits erwähnt haben, die Verteidigungsfähigkeit oder, anders ausgedrückt, die militärische Macht des Landes außerordentlich stärken. Dies einerseits. Doch anderseits kann man diese Maßnahmen nicht in die Tat umsetzen, ohne den Eroberungskrieg in einen gerechten Krieg umzuwandeln, ohne den Krieg, den die Kapitalisten im Interesse der Kapitalisten führen, in einen Krieg umzuwandeln, den das Proletariat im Interesse aller Werktätigen und Ausgebeuteten führt.

In der Tat. Die Nationalisierung der Banken und Syndikate in Verbindung mit der Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses und der Arbeiterkontrolle über die Kapitalisten würde nicht nur eine riesige Einsparung von Volksarbeit bedeuten, nicht nur die Möglichkeit bieten, Kräfte und Mittel zu sparen, sie würde auch eine Verbesserung der Lage der arbeitenden Massen der Bevölkerung, der Mehrheit der Bevölkerung bedeuten. In einem modernen Krieg ist, wie jedermann weiß, die wirtschaftliche Organisation von ausschlaggebender Bedeutung. In Rußland gibt es genügend Getreide, Kohle, Erdöl und Eisen; in dieser Beziehung ist unsere Lage besser als die irgendeines anderen kriegführenden europäischen Landes. Durch die Bekämpfung der Zerrüttung mit den genannten Mitteln, durch die Mobilisierung der Massen zum selbständigen Handeln in diesem Kampf, durch die Verbesserung ihrer Lage und durch die Nationalisierung der Banken und Syndikate könnte Rußland seine Revolution und seinen Demokratismus ausnutzen, um das ganze Land auf eine unvergleichlich höhere Stufe der ökonomischen Organisiertheit zu heben.

Hätten die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, statt eine „Koalition“ mit der Bourgeoisie einzugehen, die alle Kontrollmaßnahmen hintertreibt und die Produktion sabotiert, im April den Übergang der Macht an die Sowjets vollzogen und hätten sie ihre Kräfte nicht auf das „Minister-Karussell“ verwendet, nicht darauf, bürokratisch neben den Kadetten die Sessel der Minister, Vizeminister usw. usf. durchzusitzen, sondern darauf, die Arbeiter und Bauern bei ihrer Kontrolle über die Kapitalisten, in ihrem Krieg gegen die Kapitalisten zu führen, dann wäre Rußland jetzt ein in voller wirtschaftlicher Umgestaltung begriffenes Land: der Boden würde den Bauern gehören und die Banken wären nationalisiert, d. h., Rußland würde in dieser Hinsicht (und das sind äußerst wichtige ökonomische Grundlagen des modernen Lebens) höher stehen als alle übrigen kapitalistischen Länder.

Die Verteidigungsfähigkeit, die militärische Macht eines Landes mit nationalisierten Banken ist größer als die eines Landes, in dem die Banken in Privathänden bleiben. Die militärische Macht eines Bauernlandes, in dem sich der Boden in den Händen von Bauernkomitees befindet, ist größer als die eines Landes mit gutsherrlichem Grundbesitz.

Man beruft sich ständig auf den heroischen Patriotismus der Franzosen in den Jahren 1792/1793 und auf die Wunder an militärischem Heldenmut, die sie vollbracht haben. Man vergißt aber die materiellen, historisch-ökonomischen Bedingungen, die diese Wunder erst ermöglicht haben. Die wirklich revolutionäre Abrechnung mit dem überlebten Feudalismus, der mit einer Schnelligkeit, Entschlossenheit, Energie und Hingabe, die wahrhaft revolutionär-demokratisch waren, erfolgte Übergang des ganzen Landes zu einer höheren Produktionsweise, zum freien bäuerlichen Bodenbesitz – das waren die materiellen, ökonomischen Bedingungen, die Frankreich mit „wunderbarer“ Schnelligkeit retteten, indem sie seine wirtschaftliche Grundlage umgestalteten und erneuerten.

Das Beispiel Frankreichs lehrt uns eins, nur eins: Um Rußland verteidigungsfähig zu machen, um auch in Rußland „Wunder“ an Massenheroismus zu erreichen, muß man mit „jakobinischer“ Schonungslosigkeit alles Alte hinwegfegen und Rußland wirtschaftlich erneuern und umgestalten. Das kann aber im 20. Jahrhundert nicht durch die Beseitigung des Zarismus allein geschehen (Frankreich hat sich vor 125 Jahren nicht darauf beschränkt). Das läßt sich nicht einmal allein durch die revolutionäre Beseitigung des gutsherrlichen Grundbesitzes zuwege bringen (nicht einmal das haben wir getan, denn die Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben die Bauernschaft verraten!), nicht einmal allein durch die Übergabe des Grund und Bodens an die Bauernschaft. Denn wir leben im 20. Jahrhundert; die Herrschaft über den Grund und Boden ohne die Herrschaft über die Banken ist nicht hinreichend, um das Leben des Volkes umgestalten und erneuern zu können.

Die materielle Erneuerung Frankreichs, die Erneuerung seiner Produktion am Ende des 18. Jahrhunderts ging Hand in Hand mit der politischen und geistigen Erneuerung, mit der Diktatur der revolutionären Demokratie und des revolutionären Proletariats (von dem sich die Demokratie nicht absonderte und das mit ihr noch fast völlig verschmolzen war), mit dem erbarmungslosen Krieg, der allem, was reaktionär war, angesagt wurde. Das ganze Volk und besonders die Massen, d. h. die unterdrückten Klassen, waren von einem grenzenlosen revolutionären Enthusiasmus erfaßt. Den Krieg hielten alle für einen gerechten Verteidigungskrieg, und das war er in der Tat. Das revolutionäre Frankreich verteidigte sich gegen das reaktionär-monarchistische Europa. Nicht 1792/1793, sondern viele Jahre später, nach dem Siege der Reaktion im Innern des Landes, verwandelte die konterrevolutionäre Diktatur Napoleons die Verteidigungskriege Frankreichs in Eroberungskriege.

Und in Rußland? Wir fahren fort, einen imperialistischen Krieg zu führen, im Interesse der Kapitalisten, im Bunde mit den Imperialisten, im Einklang mit den Geheimverträgen, die der Zar mit den Kapitalisten Englands usw. abgeschlossen hat und in denen er den russischen Kapitalisten die Ausplünderung fremder Länder, in denen er ihnen Konstantinopel, Lwow, Armenien usw. versprach.

Der Krieg bleibt auf Seiten Rußlands ein ungerechter, ein reaktionärer, ein Eroberungskrieg, solange Rußland nicht einen gerechten Frieden anbietet und solange es nicht mit dem Imperialismus bricht. Der soziale Charakter eines Krieges, seine wahre Bedeutung, wird nicht dadurch bestimmt, wo die feindlichen Truppen stehen (wie die Sozialrevolutionäre und Menschewiki meinen, die bis zur Primitivität eines ungebildeten Bauern hinabsinken). Der Charakter eines Krieges wird dadurch bestimmt, welche Politik der Krieg fortsetzt („der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik“), welche Klasse den Krieg führt und welche Ziele sie dabei verfolgt.

Man kann die Massen nicht auf Grund von Geheimverträgen in einen Raubkrieg führen und dann auf ihren Enthusiasmus hoffen. Die fortgeschrittenste Klasse des revolutionären Rußlands, das Proletariat, erkennt immer klarer das Verbrecherische dieses Krieges, und die Bourgeoisie ist nicht nur nicht imstande gewesen, die Massen von dieser Überzeugung abzubringen, sondern im Gegenteil, die Erkenntnis, daß dieser Krieg ein Verbrechen ist, nimmt zu. Das Proletariat der beiden Hauptstädte Rußlands ist endgültig internationalistisch geworden!

Wie kann da von Massenenthusiasmus für den Krieg die Rede sein!

Innenpolitik und Außenpolitik – die eine ist untrennbar mit der andern verbunden. Man kann das Land nicht verteidigungsfähig machen ohne den größten Heroismus des Volkes, das kühn und entschlossen die großen wirtschaftlichen Umgestaltungen verwirklicht. Und man kann unter den Massen keinen Heroismus wecken, ohne mit dem Imperialismus zu brechen, ohne allen Völkern einen demokratischen Frieden anzubieten, ohne auf diese Weise den räuberischen, verbrecherischen Eroberungskrieg in einen gerechten, revolutionären Verteidigungskrieg umzuwandeln.

Nur der rückhaltlos konsequente Bruch mit den Kapitalisten in der Innen- wie in der Außenpolitik ist imstande, unsere Revolution und unser Land, das vom Imperialismus in eiserner Umklammerung gehalten wird, zu retten.
 

Die revolutionäre Demokratie und das revolutionäre Proletariat

Um wirklich revolutionär zu sein, muß die Demokratie des heutigen Rußlands im engsten Bündnis mit dem Proletariat marschieren und den Kampf des Proletariats als der einzigen bis zum letzten revolutionären Klasse unterstützen.

Das ist das Ergebnis, zu dem man bei der Untersuchung der Frage gelangt, welches die Kampfmittel gegen die unabwendbare Katastrophe sein müssen, die unerhörte Ausmaße anzunehmen droht.

Der Krieg hat eine so unermeßliche Krise hervorgerufen, hat die materiellen und moralischen Kräfte des Volkes so angespannt, hat der ganzen modernen Gesellschaftsorganisation solche Schläge versetzt, daß sich die Menschheit vor die Wahl gestellt sieht: entweder untergehen oder ihr Schicksal der revolutionärsten Klasse anvertrauen, um auf dem schnellsten und radikalsten Wege zu einer höheren Produktionsweise überzugehen.

Infolge einer Reihe historischer Ursachen – der größeren Rückständigkeit Rußlands, der ihm durch den Krieg verursachten besonderen Schwierigkeiten, der weit vorangeschrittenen Fäulnis des Zarismus und der außerordentlich lebendigen Traditionen des Jahres 1905 – ist in Rußland die Revolution früher als in anderen Ländern ausgebrochen. Die Revolution bewirkte, daß Rußland in einigen Monaten seinem politischen System nach die fortgeschrittenen Länder eingeholt hat.

Aber das ist zuwenig. Der Krieg ist unerbittlich, er stellt mit schonungsloser Schärfe die Frage: entweder untergehen oder die fortgeschrittenen Länder auch ökonomisch einholen und überholen.

Das ist möglich, denn vor uns liegt die fertige Erfahrung einer großen Anzahl fortgeschrittener Länder, liegen die fertigen Resultate ihrer Technik und Kultur. Wir finden eine moralische Stütze in dem wachsenden Protest gegen den Krieg in Europa, in der Atmosphäre der anwachsenden proletarischen Weltrevolution. Wir werden angespornt, angetrieben durch die während eines imperialistischen Krieges äußerst seltene revolutionär-demokratische Freiheit.

Untergehen oder mit Volldampf vorwärtsstürmen. So wird die Frage von der Geschichte gestellt.

Und das Verhältnis des Proletariats zur Bauernschaft zu einem solchen Zeitpunkt bestätigt – entsprechend abgeändert – den alten bolschewistischen Leitsatz: Die Bauernschaft muß dem Einfluß der Bourgeoisie entrissen werden. Nur darin liegt die Gewähr für die Rettung der Revolution. Die Bauernschaft aber ist der zahlenmäßig stärkste Vertreter der ganzen kleinbürgerlichen Masse.

Unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben es übernommen, eine reaktionäre Rolle zu spielen: die Bauernschaft weiter unter dem Einfluß der Bourgeoisie zu halten, die Bauernschaft zur Koalition mit der Bourgeoisie und nicht mit dem Proletariat zu führen.

Die Massen lernen schnell aus den Erfahrungen der Revolution. Und die reaktionäre Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki erleidet Schiffbruch: In den Sowjets der beiden Hauptstädte sind sie geschlagen worden. [3] In den beiden kleinbürgerlich-demokratischen Parteien wächst die „linke“ Opposition. In Petrograd hat die Stadtkonferenz der Sozialrevolutionäre am 10. September 1917 eine Zweidrittelmehrheit für die linken Sozialrevolutionäre ergeben, die zu einem Bündnis mit dem Proletariat neigen und das Bündnis (die Koalition) mit der Bourgeoisie ablehnen.

Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki wiederholen die bei der Bourgeoisie beliebte Gegenüberstellung: Bourgeoisie und Demokratie. Doch ist eine solche Gegenüberstellung im Grunde ebenso widersinnig wie ein Vergleich zwischen Pfund und Elle.

Es kann eine demokratische Bourgeoisie und es kann eine bürgerliche Demokratie geben. Nur gänzliche Unkenntnis sowohl der Geschichte als auch der politischen Ökonomie vermag das zu leugnen.

Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki haben diese falsche Gegenüberstellung nötig, um die unbestreitbare Tatsache zu verdecken, daß zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat das Kleinbürgertum steht. Dieses schwankt infolge seiner ökonomischen Klassenstellung unweigerlich zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat.

Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki wollen das Kleinbürgertum zum Bündnis mit der Bourgeoisie bewegen. Darin liegt der Kern ihrer ganzen „Koalition“, der ganzen Koalitionsregierung, der ganzen Politik Kerenskis, dieses typischen Halbkadetten. Nach einem halben Jahr Revolution hat diese Politik einen völligen Zusammenbruch erlitten.

Die Kadetten frohlocken schadenfroh: nun habe die Revolution Schiffbruch erlitten, die Revolution sei mit dem Kriege wie mit der Zerrüttung nicht fertig geworden.

Das ist nicht wahr. Schiffbruch erlitten haben die Kadetten und die Sozialrevolutionäre samt den Menschewiki, denn dieser Block (dieses Bündnis) hat Rußland ein halbes Jahr lang regiert, hat in diesem halben Jahr die Zerrüttung verstärkt und die militärische Lage verwirrt und erschwert.

Je vollständiger der Zusammenbruch des Bündnisses der Bourgeoisie mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki ist, desto schneller wird das Volk lernen. Desto leichter wird es den richtigen Ausweg finden: das Bündnis der armen Bauernschaft, d. h. der Mehrheit der Bauern, mit dem Proletariat.

10.–14. September 1917


Fußnoten

1*. Gestalt aus der Komödie A. Ostrowskis Der bittre Rest beim fremden Fest.Die Red.

2*. Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als ich in den Zeitungen las, daß die Kerenskiregierung das Zuckermonopol einführt; selbstverständlich tut sie das reaktionär-bürokratisch, ohne Tagungen der Angestellten und Arbeiter, ohne Beteiligung der Öffentlichkeit, ohne die Kapitalisten zu zügeln!!

3*. Siehe Werke, Bd. 24, S. 524/525, und den Bd. 25, S. 133–137. – Die Red.

4*. Siehe Werke, Bd. 25, S. 57–59. – Die Red.

5*. Ich hatte bereits Gelegenheit, in der bolschewistischen Presse darauf hinzuweisen, daß als triftiges Argument gegen die Todesstrafe nur gelten kann, daß sie von den Ausbeutern im Interesse der Erhaltung der Ausbeutung gegen die Massen der Werktätigen angewandt wird. (Siehe Werke, Band. 25, S. 267–270 – Die Red.) Ohne die Todesstrafe gegen die Ausbeuter (d. h. die Gutsbesitzer und Kapitalisten) wird eine wie immer geartete revolutionäre Regierung wohl kaum auskommen können.



Anmerkungen

1. Die „Gesamtrussische Demokratische Beratung“ wurde von dem menschewistisch-sozialrevolutionären Zentralexekutivkomitee der Sowjets einberufen, um dem wachsenden revolutionären Aufschwung entgegenzuwirken. Sie fand vom 14. bis 22. September (27. September bis 5. Oktober) 1917 in Petrograd statt.

Die Führer der Menschewiki und Sozialrevolutionäre taten alles, um den kleinbürgerlichen und bürgerlichen Parteien und Organisationen die überwiegende Mehrheit zu sichern. Die Bolschewiki beteiligten sich an der Demokratischen Beratung, um sie als Tribüne zur Entlarvung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre auszunutzen.

Die Demokratische Beratung beschloß die Schaffung eines Vorparlaments (Provisorischer Rat der Republik). Damit sollte der Anschein erweckt werden, daß in Rußland eine parlamentarische Ordnung eingeführt worden sei. Die Bolschewiki beschlossen zunächst, sich an dem Vorparlament zu beteiligen. Lenin kritisierte diese falsche Taktik aufs entschiedenste. Er forderte, daß die Bolschewiki das Vorparlament verlassen, und betonte die Notwendigkeit der Konzentration aller Kräfte auf die Vorbereitung des bewaffneten Aufstands. Auf Beschluß des ZK verließen die Bolschewiki das Vorparlament am Tage seiner Eröffnung.

2. Swobodnaja Shisn (Freies Leben) – Zeitung menschewistischer Richtung; erschien in Petrograd vom 2. (15.) bis zum 8. (21.) September 1917 an Stelle der vorübergehend verbotenen Nowaja Shisn.

3. Gemeint ist der Übergang der Sowjets in die Hände der Bolschewiki: des Petrograder Sowjets am 31. August (13. September) und des Moskauer Sowjets am 5. (18.) September 1917.


Zuletzt aktualisiert am 14. April 2017