Karl Kautsky

Neue Programme


7. Die Stabilisierung der politischen Macht der Sozialdemokratie


In einem Lande mit einem starken und politisch aufgeklärten Proletariat ist es möglich, durch die soeben dargelegten Maßregeln eine einmal errungene Demokratie so zu befestigen, daß sie nicht wieder durch ein diktatorisches oder absolutistisches System umzustürzen ist. Aber es ist nicht bloß möglich, die Demokratie gegen eine Diktatur zu schützen, es ist auch leichter möglich, eine Diktatur unter der Losung der Demokratie zu stürzen als unter der Losung der Ersetzung der bestehenden Diktatur durch eine andere. Der Kreis derer, die an einer neuen Diktatur ein Interesse hätten, wird stets kleiner sein als der Kreis jener, die volle Bewegungsfreiheit im Staate fordern, nicht bloß für sich allein, sondern für alle.

Aber freilich, gar manchem unter uns genügt nicht die Eroberung und Sicherung der Demokratie mit den Möglichkeiten, die sie jeder Bewegung großer Massenparteien, also auch der Sozialdemokratie bietet, ihre Anfänger zu schulen, zu organisieren, zu politischer und ökonomischer Macht zu führen. Nicht wenige verlangen mehr: sie wollen eine Verfassung, die uns nicht bloß die Möglichkeit bietet, die politische Macht zu erobern, sondern eine, die uns den Besitz dieser Macht, wenn wir sie einmal gewonnen haben, unter allen Umständen sichert, wie immer die Volksmassen gesinnt sein mögen. Diese Garantie gibt uns die Demokratie allerdings nicht. Man erwartet sie von der Diktatur der eigenen Partei, die freilich mit Notwendigkeit auch die Diktatur der Führer in der Partei und über die Partei mit sich bringt.

Und doch, trotz aller politischen Allmacht der Diktatur vermag auch sie nicht der Partei, die mit ihren Methoden regiert, unter allen Umständen den Besitz der politischen Macht zu gewährleisten. Am wenigsten in unseren Tagen des späten Kapitalismus, der ganz unerwartete und sonderbare Krisen und Katastrophen gebiert. Es ist der Köhlerglaube der Hitlerleute, zu meinen, wenn man einmal Diktator sei, dann verfüge man über die Macht für immer.

Keine Diktatur kann sich dauernd behaupten. Jede führt entweder zum Verderben des Staates, den sie beherrscht, und damit zum eigenen Untergang, oder zur Empörung der Volksmassen gegen die neuen Herren, auch wenn diese es noch so gut meinen. Daß eine Diktatur jemals freiwillig aufgegeben worden, wäre oder Zustände gezeitigt hätte, bei denen die arbeitenden Klassen sich wohl fühlten, ist in der Geschichte noch nicht vorgekommen.

Also die Diktatur bedeutet ebensowenig wie die Demokratie eine Stabilisierung der politischen Macht für irgend eine Partei, auch nicht für die unsere. Die Idee einer Diktatur des Proletariats wird von vornherein absurd dort, wo das Proletariat in verschiedene Parteien gespalten ist.

Die Diktatur sichert ebensowenig wie die Demokratie den Staat vor Gegensätzen und Kämpfen. Die Diktatur bewirkt bloß eine andere Art der Auskämpfung dieser Gegensätze, als die Demokratie.

Die Diktatur schließt jede andere Art des Übergangs der politischen Macht von einer Partei auf eine andere aus, als die durch verheerende blutige Katastrophen, innere oder äußere. Die gewaltsame Niederhaltung der Massen kann deren Unmut zu revolutionärem Fanatismus steigern, sie verkümmert aber gleichzeitig ihre Fähigkeiten freier Organisation und klarer Erkenntnis der Welt. Dauert die Diktatur lange genug, um diese Verkümmerung im Volke allgemein zu machen, dann führt ihr Umsturz leicht zu einer neuen Diktatur oder einem Chaos. Das eine wie das andere hemmt den Aufstieg zu einer höheren Gesellschaftsform. Welches Unglück für das deutsche Volk, wenn ihm keine Wahl bliebe als die zwischen gegensätzlichen Diktaturen!

Ganz anders der Entwicklungsgang in der Demokratie, solange sie selbst gesichert ist. Eine bisher herrschende Partei kann da einmal von einem Teil ihrer Wähler verlassen werden und die politische Macht verlieren, die sie besessen. Aber ihr bleiben auch im Zustande der Minderheit und der Opposition alle Rechte der Organisation und der Propaganda erhalten und sie darf erwarten, durch deren rege Ausnützung wieder an die Macht zu gelangen. Eine politische oder Ökonomische Niederlage bedeutet da für eine Arbeiterpartei nur Ansporn zu vermehrter Tätigkeit und zu strengerer Selbstprüfung. Der politische und ökonomische Kampf erzielt in der Demokratie zunehmende Ausdehnung der freien Organisation der Massen, Zunahme ihrer politischen und ökonomischen Erfahrungen, also stetes Wachstum ihrer Fähigkeit, den Staat und das Wirtschaftsleben selbst einzurichten und zu verwalten.

Die Demokratie bleibt für die arbeitenden Klassen unentbehrlich auch dort, wo sie nicht an der politischen Macht sind. Die Diktatur schädigt diese Klassen geistig und materiell auch dort, wo sie in den Händen von Arbeiterfreunden liegt.

Sie kann sich nur behaupten, wenn sie die Massen in steter Unterwürfigkeit erhält, den Geist der Kritik und der Initiative in ihnen ertötet. Das führt bei längerer Dauer zu einem Verkommen des Volkes und des Staatswesens. Diese Wirkung tritt unter allen Umständen ein, selbst wenn die Diktatur sich sozialistische Ziele setzt. Denn diese sind nur zu erreichen, wenn die arbeitenden Klassen mit Feuereifer, Verständnis und geistiger Selbständigkeit an der Neuordnung der gesellschaftlichen Produktion und des Staatslebens arbeiten.

Sicher wird durch das bloße Bestehen einer demokratischen Verfassung auf dem Papier die ökonomische Übermacht der großen Ausbeuter nicht gebrochen. Aber wie sollen die Arbeitermassen ohne demokratische Rechte einen systematischen, organisierten Kampf gegen ihre Ausbeuter führen können?

Der Umstand, daß die Demokratie nicht ohne weiteres den Sieg der Sozialdemokratie bedeutet und daß sie, wo ein solcher eingetreten, ihn nicht für alle Zeiten sichert, ist in keiner Weise ein Grund, die Demokratie gering zu schätzen und sie nicht dort, wo sie besteht oder errungen wird, nach Kräften zu stabilisieren. Die Stabilisierung der Demokratie ist notwendig und möglich. Die dauernde Stabilisierung einer Parteiherrschaft ist unmöglich. Schon ihr Versuch führt zu unerträglichen Zuständen.

Gerade der Umstand, daß in der Demokratie die Herrschaft der Sozialdemokratie nicht ohne weiteres gewährt ist, wird aber ein zwingender Grund für uns, wie für jede demokratische, auf die Massen rechnende, ihnen dienende Partei, auf eifrigste danach zu trachten, ihre Macht in der Demokratie durch unermüdliche Arbeit für das Volk zu vermehren und zu befestigen. Wir wollen die Herrschaft unserer Partei nicht in der „Verfassung verankern“, wir wollen diese nicht zu einem Faulbett machen, um auf unseren Lorbeeren zu ruhen. Aber wo wir die Herrschaft errungen haben, müssen wir ununterbrochen danach streben, sie in der Seele des Proletariats zu verankern. Das bedeutet nicht eine einmalige Festsetzung, mit der wir uns für immer begnügen können, sondern ein unermüdliches Ringen um die Wahrung der proletarischen Interessen, die zusammenfallen mit den Gesamtinteressen der Gesellschaft. Sowohl diese wie jene zu erkennen und zu verfe[cht]en, werden wir durch die Demokratie gerade deswegen gezwungen, weil sie die politische Herrschaft der Sozialdemokratie nicht schon durch ihr bloßes Bestehen stabilisiert.

Alle Maßregeln, die unsere Partei in diesem Sinne durchzuführen hat, sobald sie an die Macht gelangt, werden eine sozialistische Tendenz haben. Entscheidend für die Durchführung jeder neuen sozialen Einrichtung wird die Frage sein, ob sie die Lage der arbeitenden Menschen verbessert, materiell oder moralisch. Es wäre absurd, dabei einen Unterschied zwischen „reformistischen“ oder „revolutionären“ Maßregeln zu machen und die ersteren auszuschließen oder gar unter den Sozialisten zwei verschiedene Klassen zu unterscheiden, die-der Reformisten, die zu verurteilen, und die der Revolutionäre, die hoch zu preisen sind. Unter reformistischen Maßregeln versteht man solche, die mit der bestehenden Produktionsweise vereinbar sind, und unter revolutionären solche, die geeignet sind, sie aufzuheben.

Als die erste Internationale 1864 ins Leben trat, deren führender Geist Karl Marx war, setzte sie sich vor allem die Aufgabe, die Gründung von Gewerkschaften und den Erlaß von Arbeiterschutzgesetzen in den Industrieländern zu fördern. Das erschien gar manchem Revolutionär als ein höchst unzulängliches reformistisches Tun. Man wendete gegen Gewerkschaften und Arbeiterschutzgesetze ein, daß sie das kapitalistische Übel nicht an der Wurzel angriffen, die kapitalistische Produktionsweise fortbestehen ließen; der Kampf für sie sei daher als Kraftverschwendung abzulehnen. Die Gründung von Produktivgenossenschaften mit Staatsunterstützung hebe dagegen das Lohnsystem auf, sei also revolutionär.

In Wirklichkeit hat die Arbeit des „Reformisten“ Marx in der Internationale für den Aufstieg des Proletariats die höchste Bedeutung gewonnen, indes die der „revolutionären“ Gründer von Genossenschaften mit Staatshilfe spurlos vorüberging. Wir haben schon oben in einem anderen Zusammenhang bemerkt, daß jeder Sozialdemokrat Revolutionär schon durch sein Ziel ist. Inwieweit die einzelnen Maßregeln, für die er sich jeweilig zu bemühen hat, als reformistische oder revolutionäre zu bezeichnen sind, hängt jedesmal von der historischen Situation ab. Als Sozialist unter allen Umständen Reformist sein zu wollen, ist sicher lächerlich. Nicht minder aber das Bemühen, sich stets nur auf revolutionäre Maßregeln beschränken zu wollen.

Wir werden, wenn wir die politische Macht errungen haben, reformistische ebenso wie revolutionäre Einrichtungen zu schaffen haben. Eine unserer wichtigsten Aufgaben wird darin bestehen, die Produktion soweit als möglich zu sozialisieren in staatlichen, kommunalen, genossenschaftlichen Betrieben. Davon habe ich schon oben gehandelt. Aber nicht alle Zweige der Produktion und des Verkehrs eignen sich heute schon zur Sozialisierung und die dafür geeigneten können auch nicht ohne weiteres, ohne lange Vorbereitung sozialistisch organisiert werden. Eine Reihe von Arbeitszweigen und Betrieben werden einstweilen oder überhaupt, als private fortbestehen müssen. Aber auch deren Arbeitern müssen wir Verbesserungen bringen, als Produzenten oder Konsumenten. Sollen wir derartige Fortschritte verachten, weil sie bloß „reformistischer“ Natur sind?

Verbesserungen dieser Art haben gegenüber den Sozialisierungen oft den Vorteil, daß sie sofort ohne weiteres durchführbar sind und manche von ihnen kommen nicht bloß einzelnen Gruppen zugute, sondern der gesamten arbeitenden Bevölkerung.


Zuletzt aktualisiert am: 31. März 2018