Karl Kautsky

Neue Programme


2. Die Idee der Diktatur


Die Vorschläge, die Genösse X auf dem Gebiete der Wirtschaft macht, bedeuten, wie wir gesehen, in keiner Weise ein neues Programm. Wir hätten uns kaum veranlaßt gesehen, uns eingehend mit ihnen zu beschäftigen, wenn sie nicht mit einem politischen Programm verbunden wären. Dieses ist tatsächlich ein völlig neues, das heißt neu nur für die Sozialdemokraten. Seine Gedankengänge sind uns leider nur zu sehr vertraut, aber bisher bestand eine der wichtigsten Funktionen unserer Partei darin, sie entschieden und leidenschaftlich zu bekämpfen. Nun sollen wir anbeten, was wir verbrannt, denn der neue Gott, dem wir entgegen traten, hat sich für den Augenblick als der stärkere erwiesen.

Dem wirtschaftlichen Programm, dessen Sätze wir eben zitiert haben, läßt Genösse X ein politisches folgen. Er fordert:

Stabilisierung der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse durch eine Diktatur mit dem Ziel des freien demokratischen Staates, wenn durch die gesellschaftliche und ökonomische Entmachtung der herrschenden Klasse die Voraussetzung für diesen Staat geschaffen sind.“

Begründet wird diese Forderung folgendermaßen:

„Wer heute in Deutschland vor Arbeitern noch über Demokratie spricht, begegnet mitleidigem Lächeln. Das ist vorbei, kein Gott kann die Weimarer Verfassung wieder herstellen. Nicht als ob diese von einem hingebenden Glauben an die demokratische Freiheit erfüllt gewesenen Massen nun einer bodenlosen Diktaturtheorie verfallen wären. Aber sie haben eine furchtbare Lehre erhalten, was es heißt, die politische Freiheit hineinsetzen in ein Umfassungsgemäuer agrarischer und kapitalistischer Zwingburgen, was es bedeutet, einigen Tausend Großgrundbesitzern durch die Herrschaft über ein Drittel der Bodenfläche [1] mehr politische Macht zu geben, als 2 Millionen Landarbeiter und Deputatbauern zusammen haben; was demokratisches Wahlrecht wert ist, wenn der kapitalistische Geldsack Tausende von Zeitungen, Zehntausende von Kanzeln und Lehrstühlen, Hunderttausende von Existenzen in seiner Gewalt hat.“

Diese Sätze sind nicht der Ausdruck von Stimmungen eines vereinzelten Zweiflers.

Nein, so wie Genösse X denken heute unendlich viele Genossen in Deutschland. Und ähnliche Stimmen kann man auch in manchen Parteikreisen anderer Länder hören, z. B. in Frankreich, wo auf dem rechten wie auf dem linken Flügel der Partei manches mitleidige Lächeln demjenigen begegnet, der von Demokratie spricht. Die einen sprechen von „autoritärem“ Sozialismus, andere von revolutionärer Diktatur. Das klingt verschieden, läuft aber schließlich auf das gleiche heraus.

Die Hochschätzung der Diktatur als Mittel des sozialistischen Aufbaues ist nicht so neu, wie sie manchem ihrer Verfechter erscheinen mag. Sie reicht vielmehr in die ersten Anfänge der sozialistischen Bewegung zurück. Sie stellt die älteste, primitivste Form eines revolutionären Sozialismus dar, der das arbeitende Volk nicht durch friedliche Gründung sozialistischer Kolonien oder Genossenschaften, sondern durch die gewaltsame Eroberung der Staatsmacht von jeder Ausbeutung und Knechtung befreien will. Dieser Gedanke knüpft direkt an das Schreckensregiment des Jakobinismus an.

Es war François Babeuf, der nach der Niederwerfung Robespierres einen Teil der Reste der Bergpartei sammelte, um das aufkommende kapitalistische Regime zu bekämpfen, das er durch einen Sozialismus „roher Gleichmacherei“ (Marx) ersetzen wollte. Er begründete eine „Verschwörung der Gleichen“, die sich die Aufgabe setzte, durch einen Aufstand der Massen Besitzloser die Kapitalistenregierung zu stürzen und durch eine kommunistische Regierung zu ersetzen. Diese sollte die volle Demokratie bringen, aber nicht gleich. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß die Proletarier sich von den Männern des Besitzes und der Bildung leicht nasführen lassen. Die Verschwörer fürchteten, durch die Demokratie von neuem die armen, unwissenden Leute diesen Einflüssen auszusetzen. Daher sollte die Volksrevolution zunächst eine Diktatur einsetzen. Die Preßfreiheit sollte aufgehoben werden, keine Presseerzeugnisse geduldet werden, die „den geheiligten Grundsätzen der Gleichheit und der Volkssouveränität entgegen sind“, wobei natürlich das leitende Komitee allein zu entscheiden hatte, was diesen Grundsätzen widersprach. Auch Volkswahlen sollte es erst geben, wenn die Gleichheit vollständig durchgeführt sei.

Das war also eine Diktatur für die „Übergangsperiode zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft“. Es sollte eine proletarische Diktatur sein, jedoch nicht eine des Proletariats, das ja als viel zu unwissend und unfähig betrachtet wurde, seine eigenen Interessen zu wahren. Es sollte vielmehr eine Diktatur von väterlichen Freunden und Vormündern des Proletariats sein; der kürzlich geprägte Ausdruck einer „Erziehungsdiktatur“ paßt für diese Regierungsform sehr gut. [2]

Die Diktatur Babeufs sollte nicht ein politischer Zustand sein, hervorgehend aus der Demokratie bei einem genügend hohen Stand proletarischer Entwicklung, sondern sie sollte eine Regierungsform sein, die bei ganz ungenügender Entwicklung des Proletariats die weitestgehende und rücksichtsloseste Wahrung seiner Interessen, unter allen Umständen sichern sollte. Sie ging von der Überzeugung aus, daß die Demokratie als Mittel der Befreiung des Proletariats versagen müsse, deswegen versagen müsse, weil das Proletariat selbst versage, weil es unfähig sei. sich selbst zu befreien.

Die Verschwörung der Gleichen wurde entdeckt, Babeuf enthauptet (1797). Aber seine Auffassung der Diktatur von Vormündern des Proletariats als einzig mögliches Mittel, zum Sozialismus zu gelangen, starb nicht mit ihm. Sie war bestimmten Verhältnissen entsprossen: die kapitalistische Produktionsweise ließ für die Masse des arbeitenden Volkes keinen ändern Ausweg aus dem Elend zu, als den Übergang zu einer sozialistischen Produktionsweise. Nur die Staatsmacht konnte mit dem Kapital fertig werden. Aber unter der Herrschaft des Kapitals verelendete das Proletariat lange Zeit hindurch so sehr, daß ihm jede Fähigkeit fehlte, die Staatsgewalt selbst zu ergreifen und zu handhaben.

Wo immer sich solche Verhältnisse zeigten und dabei die Möglichkeit auftauchte oder aufzutauchen schien, durch eine Insurrektion eine bestehende Regierung zu stürzen, erstand auch immer wieder die Idee einer derartigen Diktatur, die gerade aus der Rückständigkeit und Hilflosigkeit, nicht aus einem hohen Grad intellektueller und moralischer Kraft und Selbständigkeit des Proletariats hervorging.

Als sich nach der Julirevolution 1830 in Frankreich eine Arbeiterbewegung bildete, beschäftigte die Arbeiter auch sofort die Frage, wie sie ihrem Elend gründlich abhelfen könnten. Sie waren in der Mehrzahl darüber einig, daß sie vom Wohlwollen der Bourgeoisie nichts zu erwarten hätten. Sie selbst wollten den Sozialismus durchsetzen, und zwar sofort, aus eigener Kraft.

Gerade durch die Revolution des Juli wurde in den Arbeitern von Paris der Glaube an die Macht der Barrikade hervorgerufen. Da gelangte die Idee Babeufs zur Auferstehung im Blanquismus.

Doch nicht alle Sozialisten dachten blanquistisch. Andere schlossen sich Louis Blanc an, der ungemessenes Vertrauen zur demokratischen Republik hatte. Die Armen und Elenden seien doch die große Mehrheit der Nation. Man brauche ihnen bloß das allgemeine gleiche und geheime Wahlrecht zu einem souveränen Parlament bei vollkommener Preß- und Vereinsfreiheit zu geben, und niemand im Staate vermöge mehr ihren Vormarsch zum Sozialismus aufzuhalten. Er übersah, daß diese Erwartung ein zahlreiches und äußerst hochstehendes Proletariat voraussetzte, zu dem vor 1848 nur kleine Ansätze bestanden.

Den beiden Richtungen stand Proudhon kritisch gegenüber. Er sah, daß bei dem gegebenen Stande der Dinge die Proletarier nicht in der Lage seien, durch Demokratie zu siegen, er fürchtete aber nicht minder die Diktatur einer sozialistischen Minderheit durch einen allmächtigen Staatsapparat. Allein auch er rechnete mit keiner andern Gestalt des Proletariats als jener, die er gerade vorfand. Es sei nicht imstande, sich in der Staatspolitik durchzusetzen und sie zu meistern und doch müsse die Befreiung des Proletariats das Werk der Proletarier selbst sein. Um dies zu erreichen, wollte er das Problem vereinfachen. Die Proletarier seien nicht imstande, erfolgreich eine eigene Staatspolitik zu treiben, dagegen vermöchten sie die Aufgaben der Gemeindepolitik sehr wohl zu meistern. So wollte er zum Sozialismus kommen durch Auflösung des Staates in souveräne Gemeinden.

Diese sehr verschiedenen Richtungen herrschten in den Reihen der Sozialisten Frankreichs und von dort ausgehend in denen Europas zu der Zeit, als Marx zu sozialistischem Denken kam. Über die Aussichtslosigkeit des bürgerlich-philantropischen Utopismus war er nie im unklaren. Nur der aus der Arbeiterbewegung hervorgehende Sozialismus kam für ihn in Frage. Jedoch war er bald so weit, auch die Unzulänglichkeit jeder der drei hier skizzierten Richtungen dieser Bewegung zu erkennen. Diese Unzulänglichkeit führte er darauf zurück, daß jede mit dem gegebenen Proletariat den Sozialismus herbeiführen wollte, eine Aufgabe, die damals unlöslich war.

Die Unfähigkeit des Proletariats, den Sozialismus durchzuführen, erkannten auch die Utopisten und Blanquisten. Sie sahen ein, es sei notwendig, die Proletarier zu erziehen, aber diese Erziehungsarbeit sollte durch eine Reihe über ihm stehender Vormünder, der Sozialisten, vorgenommen werden. Erst wenn der Sozialismus durchgeführt sei, würde sich das arbeitende Volk auf eine höhere Stufe erheben, könnte es imstande sein, sich demokratisch selbst zu verwalten. Der Satz, wahre Demokratie sei erst in vollständigem Sozialismus möglich, ist keine neue Erleuchtung, sondern eine primitive, vormarxistische Anschauung.

Marx erkannte das Fragwürdige dieser Art von Erziehung des Proletariats durch Erzieher, die sich entweder selbst zu solchen „Führern“ aufwarfen oder die ein völlig unwissendes Proletariat durch eine Insurrektion oder sonstwie zur Vormundschaft über sich selbst erheben und zu diesem Zwecke mit politischer Allmacht begaben sollte. Das hieß, die Befreiung des Proletariats von historischen Zufällen abhängig machen, höchst unwahrscheinlichen Zufällen. Denn in der Regel war nicht zu erwarten, daß ein paar sozialistische Verschwörer bei schwachem, unwissendem Proletariat jene politische Allmacht erringen könnten, deren sie bedürften, um auch nur den Versuch zu machen, das Kapital zu expropriieren, von den Schwierigkeiten des sozialistischen Neuaufbaus ganz abgesehen.

Marx kam zu der Erkenntnis, daß die Erziehung, deren das Proletariat bedürfe, nur dann gesichert sei, wenn sie nicht aus einer Abnormität hervorzugehen habe, sondern aus einer in allen kapitalistischen Staaten unvermeidlich vorkommenden und kräftig wirkenden Erscheinung. Diese Erscheinung war der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit, war der proletarische Klassenkampf, der aus diesem Gegensatz unvermeidlich hervorgeht, mögen Liberale und Faschisten noch so sehr in trautem Verein gegen ihn als eine marxistische „Erfindung“ zetern.

Marx hat ihn nicht erfunden, nicht gefordert, er hat bloß sein Dasein konstatiert und die Folgen erkannt, die er mit sich bringt und bringen muß. Und eine der wesentlichsten dieser Folgen ist die Erziehung des Proletariats zur Demokratie und zum Sozialismus, der ohne Demokratie nicht gedeihen kann.

Das Klasseninteresse des Proletariats bedarf der Demokratie nicht minder als des Sozialismus. Es kann jene früher gewinnen als diesen, da auch die ändern arbeitenden Klassen, Handwerker und Bauern sowie viele Intellektuelle an ihr interessiert sind.

Im Kampf um die Demokratie und um seine nächsten Klasseninteressen, die soziale Reformen erheischen, wird das Proletariat aus seiner primitiven Barbarei zu einer entwickelteren Gestalt erhoben. Die Ergebnisse dieser Kämpfe schaffen dann den aussichtsreichsten Kampfboden, auf dem es seine Kräfte durch freie Bewegung aufgeklärter und organisierter Massen aufs höchste steigert und so fähig wird, in die Endkämpfe zur Durchsetzung des Sozialismus mit Erfolg einzutreten.

Nur langsam drang diese Auffassung in der Arbeiterbewegung durch. Sie setzte voraus die Erkenntnis nicht bloß des Proletariats, wie es augenblicklich war, sondern auch die der Höhe, die es erreichen konnte und mußte. Sie setzte aber auch die Abnützung der früheren sozialistischen Schulen voraus, die auf die Arbeiterbewegung Einfluß genommen hatten, die Blanquis, Louis Blancs, Proudhons. Louis Blanc wurde schon durch den Juniaufstand von 1848 erledigt, die von der Demokratie wegführenden Richtungen der Diktatur und Anarchie aber hörten nach der Niederlage der Pariser Kommune 1871 immer mehr auf, trotz der Versuche Bakunins im entgegengesetzten Sinne. Von da an war die Arbeiterbewegung auf der Grundlage marxistischer Erkenntnis der Rolle des Klassenkampfes mit der Forderung der Erringung und Ausnutzung der Demokratie unzertrennlich verbunden. Das blieb so bis zum Weltkrieg. Erst dessen Nachwirkungen erschütterten in vielen Sozialisten wieder ihre innige Verbindung mit der Idee der Demokratie.

Noch im April 1917 feierte Lenin die russische Revolution als demokratische Revolution. Aber als deren Wechselfälle ihm die Möglichkeit gaben, an Stelle der eben gestürzten eine neue Autokratie zu begründen, seine eigene, erzeugte die Rückständigkeit des russischen Proletariats in ihm dieselben Gedankengänge, die die Rückständigkeit des französischen und deutschen in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bei Blanqui und Weitling hervorgerufen hatte. Da er den Arbeitern Rußlands noch nicht die Fähigkeit zutraute, selbst den Staat zu verwalten und den ganzen gesellschaftlichen Produktionsprozeß zu leiten, sollte das eine über ihnen stehende Macht, eine ihnen wohlwollende Diktatur bewirken.

Ökonomisch hat diese Diktatur bisher die Arbeiter Rußlands nicht gehoben, sondern stark degradiert. Aber sie wußte sich zu behaupten und viel zu versprechen und das imponierte vielen Sozialisten auch außerhalb Rußlands, denen die Entwicklung in sozialistischem Sinne nicht nach Wunsch vor sich ging und die hofften, eine Diktatur könne den Gang der Dinge in unserem Sinne beschleunigen.

Selbst ein so gut geschulter Marxist wie Hugo Haase konnte sich diesen Einwirkungen nicht ganz entziehen. Richtig sagt sein Sohn Ernst in seinem Gedenkbuch über ihn:

„Hugo Haase war es klar, daß das Proletariat, zur Macht gelangt, die Errungenschaften der Revolution diktatorisch verankern müsse“. (S. 64)

Allerdings wurde er nie Bolschewik.

„Er wandte sich gegen eine Abenteuerpolitik, die in blinder Nachahmung der russischen Vorgänge die dortigen Diktatur- und Terrormethoden auf Deutschland übertragen wollte.“

Rosa Luxemburg lehnte diese Methoden auch für Rußland ab.

Haase gegenüber fürchtete ich, daß man dem Teufel der Diktatur rettungslos verfalle, wenn man ihm einmal den kleinen Finger gereicht. Daß Haase sie als Methode des sozialistischen Aufbaus nicht bedingungslos ablehnte, hat zwischen ihm und mir 1919 manche scharfe Diskussion im Freundeskreise hervorgerufen. Es war der einzige Gegensatz von Belang, der jemals zwischen ihm und mir auftauchte und zwischen mir und manchem anderen von mir hochgeschätzten Freund.

Es ist ein so hoch beglückendes Gefühl, daß in einem großen Staatswesen Sozialisten ohne jede Einschränkung herrschen und emsig bemüht sind, unser sozialistisches Ideal zu verwirklichen, daß enthusiastische Naturen gern alle kritischen Einwendungen dagegen zum Schweigen bringen.

Die bolschewisierenden Sozialdemokraten außerhalb Rußlands, die mit der Idee der Diktatur sympathisieren, ließen sich bisher in zwei Gruppen teilen: Die einen akzeptierten die Diktatur bloß für Rußland, nicht für das eigene Land. Sie nahmen offenbar an, die sozialistische Produktion sei eine Produktionsweise, die für alle Länder und alle Entwicklungsstufen passe. Man müsse nur für untere Stufen andere Methoden anwenden, als für höhere. Die marxistische Methode sei gut für Länder mit entwickeltem, die utopistische oder blanquistische für Länder mit rückständigem Proletariat. Der alte Zwiespalt zwischen Weitling und Marx tritt wieder auf, neu ist an ihm nur die Besonderheit, daß sich die Weitlingianer von heute als besonders gute Marxisten drapieren und fühlen.

Andere akzeptierten die bolschewistischen Ideen für alle Länder. Was sie davon abhielt, einfach in das Lager des Bolschewismus überzugehen, war dessen Anspruch auf diktatorische Beherrschung nicht bloß Rußlands, sondern der ganzen Welt vorn Moskauer Kreml aus.

Jetzt aber ersieht eine neue dritte diktatorische Richtung m der Sozialdemokratie, hervorgerufen nicht durch das Vorbild des bolschewistischen Rußlands, sondern durch die Erfolge des Nationalsozialismus in Deutschland. Sie ist antibolschewistisch und bolschewistisch in einem Atem.

Einer der eifrigsten Vertreter dieser neuen Richtung ist Bienstock. Er sagt (Marx gegen Hitler):

„Die Entartung der bolschewistischen Revolution hat die Idee der revolutionären Demokratie kompromittiert, die proletarische Revolution Europas wird jedoch unter Umständen die bolschewistische Umwälzung in formaler Hinsicht wiederholen müssen.“ (S. 15)

Also gibt es nicht nur eine formale Demokratie, sondern auch einen formalen Bolschewismus. Der wirkliche Bolschewismus ist schlecht, aber der formale wird uns retten. Was ist das „formaler Bolschewismus“? Gibt es auch, einen formalen Terrorismus? Und eine formale Tscheka?

Anderer Meinung ist Bienstocks Gesinnungsfreund B. Irlen. Er fragt in der gleichen Schrift:

„Wo bleibt dann (bei B. Irlens Auffassung der richtigen Demokratie) der Unterschied zwischen dem demokratischen Sozialismus und dem Bolschewismus — wird man fragen. Den Umstand bilden die Ziele, die die beiden Bewegungen anstreben.“ (S. 55)

„Während der Bolschewismus — ebenso wie der Faschismus, wenn auch auf einer anderen Basis — die Menschen zur Unfreiheit zwingt, wird der demokratische Sozialismus nicht davor zurückschrecken, die Menschen zur Freiheit zu zwingen.“ (S. 56)

Dieser letzte Satz ist von B. Irlen selbst unterstrichen. Er ist sicher sehr tiefsinnig, jedoch noch mehr ist er höchst dunkel. Man sprach bisher wohl oft von der Erziehung rückständiger Menschen zur Freiheit. Dagegen ist die Idee, jemanden zur Freiheit, zur Zwanglosigkeit, zu zwingen, unerhört neu. Aber vielleicht meint B. Irlen bloß, daß der demokratische Sozialismus, wie er ihn auffaßt, die Menschen zwingen will, einen Weg einzuschlagen, der sie zu Zuständen führt, in denen man ihnen schließlich die Freiheit geben darf, das heißt, zu Zuständen, in denen sie freiwillig alle gerade so denken und wollen und handeln, wie es der Diktator für gut findet.

Diese Art „Zwang zur Freiheit“ wollen aber die Bolschewiki auch. Ja, B. Irlen selbst muß zugeben, daß sogar die Faschisten behaupten, auf ihrem Wege zur Freiheit zu kommen. Bolschewiks und Faschisten unterscheiden sich also von B. Irlens demokratischen Sozialisten nur dadurch, daß, wie er selbst sagt, wir davon „überzeugt sind“, nur wir könnten den Sozialismus und die Freiheit bringen. Also die Methoden sind hier und dort die gleichen, für Sozialdemokraten und Bolschewiks sind auch die ökonomischen Vorbedingungen der Freiheit, die zu schaffen, übereinstimmend gedacht. Die politischen Bedingungen sollen ebenfalls die gleichen sein, völlige Unfreiheit der Massen. Wodurch unterscheiden wir uns also von den Bolschewiken? Offenbar dadurch, daß wir die besseren Menschen sind. Darum wird die Diktatur, die wir aufrichten, Freiheit und Wohlstand bringen, im Gegensatz zu den Bolschewiks, die ins Verderben führen. Aber waren die Bolschewiks ehedem nicht auch Sozialdemokraten? Welches Recht haben wir, anzunehmen, daß sie es nicht ehrlich meinen? Und warum sollen wir erwarten dürfen, die bolschewistischen Methoden würden in unseren Händen ganz andere Ergebnisse liefern, als in den Händen der heutigen Beherrscher Rußlands?

Wer so denkt, macht den Gegensatz zwischen Bolschewiks und Sozialdemokraten, zu einem rein persönlichen. Soll ein solcher das Proletariat spalten dürfen?

Leider erscheinen mir die Gegensätze, die zwischen uns bestehen, tiefer begründet.

Wir müssen uns daher mit der neuen Richtung noch näher auseinandersetzen, die man als die des „formalen Bolschewismus“ bezeichnen mag.


Anmerkungen

1. Hat hier Genosse X das ganze Reich im Auge? Dessen 18.669 Betriebe mit mehr als 100 Hektar umfassen bloß ein Fünftel des landwirtschaftlich benützten Bodens, in Preußen ein Viertel.

2. Die vorliegende Arbeit war schon abgeschlossen, da ging mir die Polemik zu, die Genösse Aufhäuser in Nr. 15 des Neuen Vorwärts gegen Ausführungen der Genossin O. Olberg führt, deren Standpunkt ganz der meinige ist. Aufhäuser hat auf der Pariser internationalen Konferenz das Wort von der Erziehungsdemokratie geprägt. In seiner Polemik bemerkt er, daß er die Diktatur nicht zur Erziehung der Arbeiterklasse fordere, sondern zur Erziehung der Bourgeoisie. Er nimmt also jedenfalls nicht an, daß unter der Diktatur des Proletariats die Kapitalistenklasse aufhören wird zu bestehen oder auch nur zu herrschen, sonst wäre es überflüssig sie noch besonders zu erziehen.

Eine Erziehung der Kapitalisten, der Ausbeuter überhaupt, ist sicher sehr notwendig, solange man nicht so weit ist, sie durch die Expropriation ihrer Machtmittel lahmzulegen. Diese Erziehung ist aber von der Arbeiterbewegung schon seit langem begonnen worden. Die Ausbeuter werden den Ausgebeuteten gegenüber umso überheblicher, roher, gewalttätiger, je weniger diese sich wehren können. Daher die furchtbaren Gemeinheiten der Kolonialpolitik. Je stärker die Arbeiterbewegung, desto manierlicher den unteren Klassen gegenüber die oberen. Namentlich die englischen Arbeiter hoben in dieser Beziehung schon eine tüchtige Erziehungsarbeit geleistet. Ist die Arbeiterbewegung einmal stark genug geworden, mit den Faschisten fertig zu werden, wird sie ihr Erziehungswerk an den Kapitalisten mit vollster Kraft in den jetzt faschistischen Ländern wieder aufnehmen können. Wozu denn noch erst eine Diktatur als Erziehungsbehörde? Deren Kraft beruht auf ihrer schrankenlosen Verfügung über eine bewaffnete Macht, der ein waffenloses Volk gegenübersteht. Die Erziehungsmittel einer solchen Macht sind stets nur Mißhandlungen und Quälereien, also Greueltaten. Sollen wir als Sieger die Bourgeois in Konzentrationslager stecken, um sie dort zu erziehen?

So hat es Aufhäuser natürlich nicht gemeint. Wir wollen doch nicht die roten Affen der braunen Hunnen sein.


Zuletzt aktualisiert am: 31. März 2018