Karl Kautsky

Der Bolschewismus in der Sackgasse


3. Die politische Revolution


a) Die Revolution von 1917

Eine soziale Revolution geht hervor aus einer politischen Revolution. Diese wirkt dann aber wieder auf jene zurück. Der politische und der soziale Zustand eines Staates stehen in engster Wechselwirkung miteinander. Dabei liegt aber der politische Zustand klarer zutage, ist leichter zu erfassen, als der soziale, da seine Grundlagen in kurzen Gesetzen oder Dekreten zusammengefaßt sind.

Die Veränderungen in der politischen Verfassung Rußlands zeigen am deutlichsten den Wandel seiner gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die zweite Revolution Rußlands brach am 13. März (nach damaliger russischer Zeitrechnung 28. Februar) 1917 aus, mitten im Weltkrieg, eine Folge des furchtbaren Elends, das er hervorrief, sowie der Auflösung der Disziplin im Heer, das des erfolglosen Krieges müde war und sich mit der Masse der Arbeiter und Bauern im Ruf nach Frieden vereinigte.

Das Versagen der Armee im Kampf gegen den „inneren Feind“ brachte den Zarismus zum Zusammenbruch. Was die erste russische Revolution 1905 nur unvollkommen erreicht hatte, gelang nun mit einem Male in radikalster Weise: der Sieg einer weitgehenden politischen Demokratie. Diese begründete eine demokratische Republik, deren Verfassung die konstituierende Nationalversammlung ausarbeiten sollte, die im Januar 1918 zusammentrat, nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht erwählt. Die sozialistischen Parteien hatten in ihr die übergroße Mehrheit erlangt. Von 36 Millionen abgegebener Stimmen entfielen auf die Sozialrevolutionäre fast 21 Millionen, auf die Bolschewiks 9 Millionen, die Menschewiks nicht ganz 2 Millionen, der Rest, über 4 Millionen, auf verschiedene bürgerliche Parteien.

Eine ausgesprochen arbeiter- und bauernfreundliche Demokratie mußte aus den Arbeiten dieser Nationalversammlung hervorgehen.

Doch sie kam nie dazu, eine Tätigkeit zu entfalten. Sie wurde bei ihrem Beginn durch Militärfäuste gesprengt und damit war der demokratischen Revolution ein Ende bereitet.

Diese war zum Unglück Rußlands dort früher ausgebrochen, als in Deutschland und in den Gebieten Österreichs. In der Militärmonarchie der Habsburger und der der Hohenzollern fiel sie zusammen mit der Beendigung des Krieges. In Rußland wurde das Zarenregiment mitten im Kriege gestürzt. Die Frage der Stellung zum Kriege, die bereits die Sozialistische Internationale gespalten und funktionsunfähig gemacht hatte, erzeugte auch in der russischen Demokratie tiefgehende Differenzen, die keineswegs mit den Klassengegensätzen zusammen fielen. Auch die Sozialdemokratie und die Sozialrevolutionäre spalteten sich darob. Natürlich, den Frieden wollte jeder, aber wie zum Frieden gelangen und zu welchem Frieden? Das war die große Schwierigkeit, denn die leitenden Staatsmänner und Militärs in Deutschland und Österreich fühlten sich durch den militärischen Zusammenbruch des Zarismus ermutigt, ihre Kriegsziele zu erweitern, was den Westmächten um so dringlicher erscheinen ließ, durchzuhalten bis zur Niederringung der Zentralmächte. Wie da zu einem „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“ kommen, den die Sozialisten forderten?

Einzig die Bolschewiks besaßen die Kühnheit, einfach zu verlangen, die Armee solle auseinanderlaufen und die russischen Grenzen den Armeen der Deutschen, der Österreicher und Türken preisgeben. Sie erwarteten, daß die Antwort auf solche Verwegenheit das Auseinanderlaufen auch der anderen Armeen und die Weltrevolution sein werde. Hatten sie vorausgesehen, daß das Ergebnis ihrer Politik vielmehr der Friede von Brest-Litowsk (Februar 1918), der ungehinderte Vormarsch der Deutschen durch die Ukraine, ja bis nach Georgien sein werde, dann hätten sie die Auflösung der Armee im Sommer 1917 vielleicht etwas weniger energisch betrieben.

Nicht durch die Weltrevolution wurde damals das bolschewisierte Rußland gerettet, sondern durch den Sieg der Entente. Wohl wollte diese nur das gegenrevolutionäre Werk der Deutschen und Türken in Rußland fortsetzen, doch waren die Westmächte territorial von den russischen Gebieten zu weit entfernt und die Kriegsmüdigkeit in den eigenen Heeren zu groß, als daß sie es vermocht hätten, eine energische Offensive zu Zwecken zu entfalten, die auch nicht im entferntesten in eine Abwehr fremder Bedrohung um gedeutet werden konnten.

Immerhin bestand die Invasion fremder Armeen in Rußland fort und das, ebenso wie der Bürgerkrieg, zwang auch die Bolschewiks, die eben noch die Auflösung des eigenen Heeres betrieben hatten, selbst wieder an den Aufbau eines neuen Kriegswerkzeuges zu schreiten.

Zunächst aber hatte ihnen die Parole des sofortigenb Auseinanderlaufens der Armee zu ungeheurer Popularität hei Arbeitern und Bauern verholfen und vor allem bei den Soldaten selbst.

Diese Popularität wuchs noch, als die Bolschewiks Arbeiter und Bauern ermunterten, sich ohne weiteres regellos alles Besitzes zu bemächtigen, dessen sie habhaft werden konnten, während die anderen sozialistischen Parteien wohl auch die Enteignung des Großgrundbesitzes und möglichst weitgehende Sozialisierung der kapitalistischen Industrien vornehmen wollten, aber nicht regellos, sondern wohl überlegt, nach bestimmtem Plane.

Indessen, so sehr dadurch auch die Popularität der Bolschewiks im Gegensatz zu den übrigen sozialistischen Parteien wuchs, so gewannen sie doch nicht die Mehrheit der Bauern, ja nicht einmal der Industriearbeiter.Wenigstens nicht im Lande überhaupt, sondern nur in einzelnen Städten.

Auf dem ersten Allrussischen Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte (Juni 1917) bekannten sich von 770 Delegierten, die über ihre Parteizugehörigkeit Angaben machten, 285 als Sozialrevolutionäre, 248 als Menschewiks, 105 als Bolschewiks, 32 als Internationalisten (Menschewiks mit bolschewistischen Sympathien). Daneben gab es noch 73 Sozialisten, die keiner Fraktion angehörten.

Von den Stimmenzahlen bei den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung haben wir schon gesprochen. Sie zeigen ein ähnliches Bild, nur mit einem erheblich geringeren Anteil der Menschewiks an der Stimmenzahl. Diese waren nur eine Partei industrieller Arbeiter, nicht der Bauern (außer in Georgien).

Nicht einmal unter den Soldaten, die so dringend nach Hause verlangten, gewannen die Bolschewiks bei jenen Wahlen die Mehrheit, sondern bloß 1.800.000 von 4.500.000 Stimmen, 38 Prozent.

Aber sie verfügten über eines: eine Parteiorganisation, die schon vor dem Kriege als Verschwörerorganisation auf eiserner Disziplin ihrer Anhänger, willenloser Unterwerfung unter den Führer Lenin, aufgebaut war. Der Krieg desorganisierte den Staatsapparat und die Armee, aber auch die Parteien der revolutionären Demokratie. Wohl gewannen diese in der Revolution einen gewaltigen Anhang, doch mangelte es ihm völlig an festem Zusammenhang. Die sozialistischen Parteien selbst spalteten sich, namentlich wegen der Kriegsfrage, aber auch wegen der Teilnahme an Koalitionsregierungen, die bei dem Fehlen einer alle anderen an Zahl überragenden Partei unvermeidlich waren. Unter den Menschewiks bildeten die Internationalisten eine gegen die Parteimehrheit frondierende Gruppe, unter den Sozialrevolutionären nahm dieselbe Haltung ihre Linke ein.

Nur die Bolschewiks verstanden es, ihren wachsenden Anhang zu disziplinieren und dadurch ein Übergewicht über die anderen sozialistischen Parteien zu gewinnen.

Doch hätte dieses nicht ausgereicht, ihnen auf der Grundlage der Demokratie bei parlamentarischen Methoden die Alleinherrschaft zu erringen. Aber als sie das merkten, hatten sie bereits eine andere Waffe parat, die sie zum Siege führen sollte.

Wie mit den Arbeitern und Bauern ging es damals mit den Soldaten: sie bildeten ebenso wie jene, ja eher noch mehr, eine chaotische Masse, mit der die anderen sozialistischen Parteien nicht viel anzufangen wußten. Die Bolschewiks erwiesen sich diesen auch hier überlegen.

Wohl hatten sie weniger als 40 Prozent der Stimmendes gesamten Heeres erhalten.

„Indes über 60 Prozent der Stimmen an der Nordfront und fast 70 Prozent an der Westfront, das heißt, in Truppenteilen, die am nächsten zu den Hauptstädten lagen und bei den nachfolgenden Ereignissen den Ausschlag gaben.“ (W. Woytinsky, Die Welt in Zahlen, VII., S. 27)

Aus den ihnen anhängenden Soldaten wußten die Bolschewiks genug Freiwillige zu gewinnen, die trotz aller Kriegsmüdigkeit sich nichts daraus machten, weiter Krieg zu führen. Ihnen wieder von neuem Disziplin beizubringen, das wurde die entscheidende Leistung, die den Bolschewiks die Übermacht über die anderen sozialistischen Parteien und schließlich die Alleinherrschaft im Staate verschaffte.

Von vornherein beruhte diese nicht auf dem Vertrauen der Mehrheit der Bauern und Arbeiter zu ihnen, sondern auf der Verfügung über die stärkeren Bataillone.

Ende Oktober 1917 sollte der zweite Allrussische Räte-Kongreß zusammentreten. Inzwischen hatten die Bolschewiks sich jedoch militärisch bedeutend verstärkt. Sie begannen in Petersburg die bewaffnete Erhebung gegen die provisorische Regierung und siegten dabei (7. November).

Nun erst vermochte der zweite Allrussische Sowjet-Kongreß zusammenzutreten. Da die den Menschewiks und den Sozialrevolutionären angehörenden Delegierten der Arbeiterräte es ablehnten, unter der Diktatur des bewaffneten Staatsstreichs zu tagen, hatten die Bolschewiks jetzt ihr Ziel erreicht: von 670 Delegierten, die am Kongreß teilnahmen, waren 390 Bolschewiks, daneben 179 linke Sozialrevolutionäre und 35 menschewistische Internationalisten, den Rest bildeten vereinzelte Eigenbrötler.Von den Internationalisten verließ ein Teil den Kongreß noch während der Verhandlungen, ein anderer Teil blieb „im Interesse der revolutionären Einheitsfront“, stimmte jedoch gegen die Übergabe der Macht an die Sowjetregierung, die nun eingesetzt wurde – nicht von Gnaden der Sowjets, sondern der Soldaten, die von den Bolschewiks gewonnen waren.

Diese gestatteten noch die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung. Lenin konnte diese nicht gut verhindern, da er selbst sie am lautesten verlangt und die anderen Parteien beschuldigt hatte, daß sie der Ausschreibung der Wahl Schwierigkeiten in den Weg legten. Als aber sich die große Mehrheit der Wähler gegen die Bolschewiks aussprach, war damit das Todesurteil über die Nationalversammlung gesprochen. Sie wurde sofort nach ihrem Zusammentritt (18. Januar 1918) durch bolschewistische Matrosen und Soldaten auseinandergetrieben. Da jetzt die Bolschewiks den Regierungsapparat in der Hand hatten, verfügten die anderen Parteien über keine bewaffneten Kräfte mehr in der Hauptstadt.

Der Staatsstreich vom 7. November 1917 hatte noch einen blutigen Straßenkampf in Petrograd (damals noch nicht Leningrad)) zur Folge. Der Staatsstreich vom 18. Januar 1918 fand ebenso schwachen Widerstand, wie ehedem der des Napoleon Bonaparte am 18. Brumaire (9. November 1799) in Frankreich.

Nicht jedermann hatte damals sofort die Bedeutung der Ersetzung des Direktoriums durch Napoleon für die Revolution begriffen. Noch sah man nicht deutlich, daß aus den Reihen der Revolutionäre heraus ein neues, gegen die bisherige Revolution gerichtetes Regime aufgerichtet wurde. Erst als es seine Vollendung im Kaiserreich Bonapartes fand (April 1804), wurde seine gegenrevolutionäre Bedeutung allenthalben klar erkannt. So verstanden auch wenige sofort die gegenrevolutionäre Bedeutung der Staatsstreiche vom November 1917 und Januar 1918. Es gibt bis heute noch Sozialisten, die völlig vergessen haben, daß es 1917 in Rußland eine Märzrevolution gab, durch die die demokratische Republik begründet wurde. Nicht wenige vermeinen sogar, mit den Staatsstreichen, die der demokratischen Republik den Garaus machten, habe die eigentliche Revolution erst begonnen.

Die demokratischen Parteien Rußlands – fast ausschließlich bäuerlicher und proletarischer Natur, – wurden in jenen Tagen um so mehr bedrängt, als sich gegen sie gleichzeitig Widersacher von links und rechts mit militärischer Gewalt wendeten.

War die Revolution vom März 1917 zum großen Teil auf die Rebellion einzelner Regimenter zurückzuführen und machte von da an die Auflösung der militärischen Disziplin rasche Fortschritte, so gab es doch noch Formationen, die ihren Befehlshabern zuverlässig erschienen.

Der Oberbefehlshaber der russischen Armee, General Korniloff, hatte schon im August 1917 solche Formationen zu benützen gesucht, um das damals noch demokratische Regime niederzuwerfen und nicht nur die Disziplin der Armee, sondern auch, soweit als möglich, den alten Staat wieder herzustellen. Am 26. August schlug erl os. Doch brach der Aufstand bald zusammen. Er hatte die Festigkeit der Truppen, die er kommandierte, gewaltig überschätzt. Sie wurden um so leichter erschüttert, als alle lebendigen Kräfte im Lande sich hinter die Regierung und das vom ersten Allrussischen Sowjet-Kongreß eingesetzte Zentral-Exekutiv-Komitee der Sowjets stellten, so daß Korniloffs Erhebung völlig isoliert wurde und rasch ein Ende fand:

„ein vollständiges historisches Vorbild des späteren Ausgangs des Kapp-Putsches in Deutschland.“ (El. Hurwiz, Geschichte der jüngsten russischen Revolution, S. 122)

Doch blieb der Putsch nicht ohne Folgen. Er hatte gezeigt, welche Gefahr der Revolution durch die Offiziere und ihren Anhang drohte. Das drängte viele der entschlossensten Revolutionäre in das Lager des Bolschewismus. Nicht deshalb, weil sie seine Anschauungen teilten, sondern weil sie in seinen militärischen Organisationen die einzige solide Stütze der Revolution sahen. Was auch die Sozialdemokraten in Deutschland und Österreich erst später begriffen, was in Rußland im Gegensatz zu den Bolschewiks die Menschewiks und Sozialrevolutionäre 1917 noch nicht klar erfaßten, das war eine Anschauung, die das internationale Proletariat bis dahin wenig beschäftigt hatte: Gibt es keine feste disziplinierte Armee mehr und bewaffnen sich die Parteien, dann müssen auch die demokratischen Sozialisten ihre Schutztruppen fest organisieren, so sehr ihnen die Austragung politischer Differenzen mit bewaffneter Faust widerstrebt. Nur die Menschewiks in Georgien erkannten früh, was die damalige Situation erheischte. Schon am 5. September 1917 begründeten sie in Tiflis die Arbeitergarde, zusammengesetzt aus erprobten, organisierten Genossen.

Ihre Wehrlosigkeit im übrigen Rußland hatten die demokratischen Sozialisten schwer zu büßen. Dagegen wirkte die Wehrhaftigkeit der Bolschewiks auf viele Revolutionäre verschiedener Richtungen, namentlich auf die linken Sozialrevolutionäre, sehr anziehend.

Nach der Sprengung der Konstituante nahm der Kampf der Parteien im russischen Staate vollends die Gestalt eines Bürgerkriegs an. Von neuem erhoben sich Generäle, „Weißgardisten“, und warben Banden zum Kampf gegen die Revolution. Ohne Parlament, ohne Freiheit der Presse und der Rede, der Versammlungen und Vereine wurde es unmöglich, anders gegen die Staatsgewalt zu opponieren als mit der Waffe in der Faust. Die Bolschewiks selbst priesen den Bürgerkrieg als die höchste Form der Neubildung der Gesellschaft,

Wie in Deutschland und Österreich und noch anderen Staaten hatte die endlose Dauer des Krieges auch in Rußland nicht nur eine furchtbare Kriegsmüdigkeit gezeitigt, sondern auch vielen jungen Leuten jegliche Lust zu friedlicher Arbeit genommen. Auf der einen Seite finden wir in breiten Massen den tiefsten Abscheu vor dem Waffenhandwerk, daneben aber vereinzelte und trotzdem zahlreiche Elemente, teils Phantasien, teils Tagdiebe, die zu richtigen Landsknechtnaturen werden, nur auf Raufen und Plündern ausgehen und jedem Bandenführer zulaufen, der Kräfte dieser Art wirbt.

Die bewaffneten Kämpfe der Parteien hätten wohl ein rascheres Ende genommen, wenn jede von ihnen bloß auf selbstlose, überzeugte Parteigenossen angewiesen geblieben wäre. Der Zustrom der Landsknechtnaturen, die der Krieg übrig gelassen hatte, verlängerte den Bürgerkrieg. Nun wurde auch das Innere Rußlands verheert, das von der feindlichen Invasion verschont geblieben war.

Die Zahl der Kämpfenden vermehrte sich noch dadurch, daß man hüben wie drüben an die Gefangenen des Weltkrieges appellierte. Nicht wenige der Tschechen unter den Kriegsgefangenen, die Rußland im Kriege gemacht hatte, hatten sich als „Legionäre“ zum Kampf gegen Österreich anwerben lassen. Nun machten sie Front gegen den Bolschewismus. Dafür tat sich dieser als Freund der deutschen Kriegsgefangenen auf, von denen viele für den Dienst in der „Roten Armee“ der Bolschewiks teils freiwillig geworben, teils gepreßt wurden.

Die Situation der Sozialdemokraten und auch der anderen nichtbolschewistischen Sozialisten in den Kämpfen der damaligen Zeit war qualvoll. Es war ihnen unmöglich, sich für die Bolschewiks einzusetzen, die eben die Konstituante gesprengt hatten, jede Freiheit im Staate aufhoben, jeden Weg zum moralischen, intellektuellen, ökonomischen Aufstieg des Proletariats verrammelten, jeden Sozialisten, der sich nicht willenlos ihrer Führung unterwarf, gleich einem tollen Hund über den Haufen schossen.

Aber konnten sie sich der Gegenseite anschließen? Wohl proklamierten die Bekämpfer des Bolschewismus oft als ihr Ziel die Wiederherstellung der Demokratie und der konstituierenden Nationalversammlung. Aber in den Kämpfen der Waffen dominierten nicht die Politiker, sondern die Offiziere. Das alte Offizierscorps mit seinen zaristischen, aristokratischen, kapitalistischen Neigungen wurde der bestimmende Faktor in allen den Erhebungen, die in der Zeit von 1918 bis 1920 gegen die Bolschewiks ausbrachen. Hohe Offiziere der alten Armee kommandierten sie, den Generälen Korniloff und dessen Nachfolger Alexejeff folgten bald der General Denikin, der Admiral Koltschak und schließlich General Wrangel. Wo immer diese Herren Erfolg hatten, zeigten sie sofort den reaktionären Pferdefuß. Wo immer Sozialisten und Demokraten sich durch freiheitliche Worte dieser Generäle verleiten ließen, auf ihre Seite zu treten, endete es mit einer bitteren Enttäuschung und oft bitterem Haß.

Eine große Anzahl der Demokraten und Sozialisten konnten sich in diesen Bürgerkriegen mit gutem Gewissen weder auf die eine, noch die andere Seite schlagen. Anders, als mit der Waffe in der Hand konnte mau sich aber damals in Rußland politisch schwer betätigen. So wurden die Sozialdemokraten und die anderen ihnen nahestehenden Parteien in jenen Kämpfen auf der politischen Bühne zurückgedrängt. Ein Hüben und ein Drüben nur gab es.

Dabei aber drohte der Sieg der Offiziere von Korniloff bis Wrangel mit der Wiederkehr des alten Regimes. Die Bolschewiks dagegen hatten die Konsequenzen ihrer Staatsstreiche noch nicht entwickelt. Sie erschienen als die Verfechter des neuen bäuerlichen Eigentums, soweit sich dieses eben durch Aufteilung des Bodens der Großgrundbesitzer gebildet hatte. Sie erschienen als die Schützer der Arbeiterräte, die den Lohnarbeitern Freiheit und politisch und sozial eine Erhebung über die Kapitalisten gebracht hatten. Alle die unheilvollen Seiten des Bolschewismus, sein Terror, seine Polizeiallmacht, seine Aufhebung der politischen Freiheiten sowie der ökonomische Verfall, sie schienen nur Wirkungen des Bürgerkriegs zu sein, die mit ihm verschwinden mochten.

Dazu kam, daß zur Unterstützung der dem Bolschewismus feindlichen Generäle kapitalistische fremde Regierungen ihre Truppen in Rußland einmarschieren ließen, Engländer, Franzosen, Italiener, Japaner, nachdem die deutsche Invasion verjagt worden war. Polnische Truppenüberschritten die russische Grenze schon Ende 1919, im April 1920 kam es zu einem richtigen Krieg zwischen Rußland und Polen, der mit wechselndem Glück geführt wurde, in dem die bolschewistischen Herren zuerst große Erfolge erzielten, dann wieder empfindliche Rückschläge erlitten. Lenin beendete durch Nachgiebigkeit den Krieg, um die Hände gegen Wrangel frei zu bekommen, mit dem er nun rasch fertig wurde (November 1920).

Damals erschienen die Bolschewiks als die einzige Macht in Rußland, die imstande war, die Proletarier und Bauern gegen die Wiederkehr ihrer bisherigen kapitalistischen, aristokratischen, bürokratischen Bedränger und Ausbeuter zu verteidigen und die Invasionen des Auslands abzuwehren, Wenn jemals, so gewannen sie damals die Mehrheit der Bevölkerung des russischen Reichs für sich. Sie behaupteten allerdings, daß dem stets so sei, doch hüteten sie sich wohlweislich, auch in den Tagen ihrer größten Popularität, die Probe darauf vornehmen zu lassen und freie Wahlen der Gesamtheit der Bevölkerung zu gestatten.
 

b) Die Sowjetverfassung

Durch den Staatsstreich vom Oktober–November 1917 hatten die Bolschewiks nach dem Austritt der Menschewiks und der rechten Sozialrevolutionäre einen Sowjetkongreß erreicht, auf dem nur sie sowie von ihnen geduldete Sozialisten vertreten waren, wie z. B. Die linken Sozialrevolutionäre. Das Bündnis mit diesen hörte auf, als die Bolschewiks die „Dorfarmen“ den übrigen Bauern entgegenstellten und gesondert organisierten und als die Regierung der Sowjets vor der des Deutschen Reichs kapitulierte. Die Opposition der linken Sozialrevolutionäre gegen die Bolschewiks nahm rasch ein klägliches Ende. Seitdem herrschen diese unumschränkt in den Sowjets (Juli 1918). Das kam zum Ausdruck in der Verfassung des russischen Sowjetstaates, die vom fünften Allrussischen Sowjetkongreß am 10. Juli 1918 angenommen wurde.

Anscheinend begründet sie allerdings nicht die Allmacht der kommunistischen Partei, sondern nur die Übermacht der Lohnarbeiterschaft.

Der Allrussische Sowjetkongreß wurde zur höchsten Instanz der Republik erhoben. Er besteht aus Vertretern der städtischen Arbeiter und der ländlichen Bevölkerung. Schon da wird ein Unterschied zu Ungunsten der Bauern gemacht. Allerdings verschleiert. In den Städten entfällt ein Abgeordneter auf 25.000 Wähler, auf dem flachen Lande auf 125.000 Einwohner. Warum wird die Zahl der Abgeordneten nicht hier wie dort nach Wählern oder nach Einwohnern festgesetzt? Es ist kein anderer Grund dafür einzusehen als der, die Benachteiligung der Bauern weniger deutlich erkennen zu lassen.

Das Wahlrecht wurde beiden Geschlechtern vom 18. Lebensjahr an verliehen. Da ihre erwachsenen Bewohner auf den Dörfern fast alle das Wahlrecht erhielten, kommen dort auf 125.000 Einwohner weit mehr als 25.000 Wähler. Es können ihrer an 70.000 werden. Also den städtischen Proletariern wird durch die Verfassung ein zwei- bis dreifach wirksameres Wahlrecht zugeteilt als den Bauern.

Unter den Lohnarbeitern und Bauern steht eine, statistisch nicht erfaßbare, doch keineswegs geringe Menge, die des Wahlrechts völlig beraubt ist. Indes bedeutet auch das Wahlprivileg der Lohnarbeiter nicht viel. Alle die Finten, die nach 1848 von der Reaktion ersonnen wurden, um die Stimme des Volkes zu ersticken und sie bei den Wahlen nicht zur Geltung kommen zulassen, wenn man nicht wagte, das Wahlrecht offen abzuschaffen, sie wurden von den Bolschewiks getreulich abgeguckt, die sich wenigstens in dieser Beziehung als gelehrige Schüler der westlichen Zivilisation erwiesen,allerdings nur ihrer ausgesprochen gegenrevolutionären Seite.

Wie unter dem preußischen Dreiklassenwahlrecht ist die Wahl öffentlich und indirekt. Es wählen nicht die Arbeiter und Bauern direkt die Abgeordneten zum Allrussischen Sowjetkongreß, sondern indirekt. Und nicht einmal durch Wahlmänner. Sondern die Abgeordneten zum Allrussischen Kongreß werden von den Sowjets der größeren Städte auf der einen Seite und auf der anderen von den Sowjetkongressen der Gouvernements gewählt.Die Gouvernementskongresse werden ebenfalls von den Sowjets der größeren Städte beschickt, die dadurch ein verdoppeltes indirektes Wahlrecht zum Allrussischen Sowjet erhalten, und von den Sowjets der Kreise. Diese wieder gehen aus Wahlen der Sowjets der kleineren Städte und der Bezirke (Wolost) hervor. Die Wolostsowjets endlich werden von den Dorfsowjets gewählt.

Welche famosen Ergebnisse dieses so fein ausgetüftelte Wahlrecht ergibt, zeigen einige Ziffern, die wir der sehr aufschlußreichen Studie darüber in dem schon zitierten 7. Band von Woytinsky Welt in Zahlen (S. 26–33) entnehmen. Im Jahre 1924 zählte man in den Kreissowjets nicht weniger als 64 Prozent Staatsbeamte, dagegen nur 8 Prozent Arbeiter. An Mitgliedern der Kommunistischen Partei fand man in diesem Jahre in den Dorfsowjets 8 Prozent, in den Wolostsowjets 20 Prozent, den Kreissowjets 58 Prozent, den Gouvernementssowjets 68 Prozent. Im Allrussischen Kongreß bilden endlich die Nichtkommunisten – Parteilosen – eine verschwindende Größe. Er erst erwählt das Zentral-Exekutivkomitee mit 485 Mitgliedern.

Also welche komplizierte, für die Bauernvertreter mehrfache Siebung der Abgeordneten! Bei öffentlicher Wahl müßte das allein schon genügen, jederzeit alle offene Opposition gegen die Regierung in den Sowjets unmöglich zu machen. Nun aber gesellte sich dazu bald nach dem Novemberstaatsstreich die Vernichtung der ganzen nichtkommunistischen Presse, die Beseitigung aller freien Vereine, auch jener Genossenschaften und Gewerkschaften, die sich nicht zu blinden Werkzeugen des Kommunismus degradieren ließen, sowie die förmliche Schutzlosigkeit der Kandidaten und Abgeordneten, denen in keiner Weise Immunität zugesichert wird. Dafür wurde die Allmacht der politischen Polizei aufgerichtet und daneben wurden Revolutionstribunale geschaffen, die „in der Wahl ihrer Mittel gegen die Konterrevolution, Sabotage usw. durch keinerlei Bestimmungen begrenzt“ waren (Dekret des Zentral-Exekutivkomitees vom 17. Juni 1918).

Da man unter „Konterrevolution“ und „Sabotage“, namentlich aber unter „usw.“, alles mögliche verstehen kann, war damit die Vogelfreiheit jeder Opposition ausgesprochen.

Andere als kommunistische oder von der Kommunistischen Partei geduldete Kandidaten und Abgeordnete oder gar entschieden oppositionelle Redner wurden von nun an ganz unmöglich. Das Wahlrecht ist eine Farce, wenn nicht Kandidaten verschiedener Richtungen vorhanden sind, zwischen denen man sich entscheiden kann. Die Gestaltung des Wahlrechts hat nur noch den Zweck, den Arbeitern den Glauben beizubringen, sie seien im Sowjetsystem die herrschende Klasse. Und diesen Zweck erfüllt das Sowjetwahlrecht auch, wenigstens bei naiven Seelen, unter denen gar mancher angesehene Dichter und Denker nicht nur in Rußland, sondern auch in der übrigen Welt zu finden ist.

Seinen Gipfel erreicht jenes famose Wahlrecht in den Bestimmungen, die es vollkommen in das Belieben der Sowjetgewaltigen stellen, wie und von wem gewählt werden darf.

Die Verfassung sagt darüber nur (§ 70):

„Der genaue Wahlmodus, sowie die Teilnahme der Gewerkschaften und sonstigen Arbeiterorganisationen an den Wahlen wird von den lokalen Sowjets gemäß der Instruktion des Allrussischen Zentral-Exekutiv-Komitees festgesetzt.“

Also die Regierung selbst bestimmt, wie gewählt wird, ganz nach ihrem Belieben.

Und sie kann jeden, der ihr nicht paßt, vermöge ihrer Befugnisse nicht nur von der Kandidatur, sondern auch vom aktiven Wahlrecht ausschließen. Denn klare, feste Bestimmungen enthält die Verfassung darüber nur in Bezug auf Personen, denen das aktive und passive Wahlrecht unter allen Umständen vorenthalten wird. Dazugehören nicht bloß Kapitalisten, Mönche, frühere Polizisten, Irrsinnige, sondern auch Handelsleute, zu denen offenbar auch die armen Hausierer zählen.

Als wahlberechtigt werden aber nicht sehr klar diejenigen bezeichnet, „die ihren Lebensunterhalt aus produktiver und gesellschaftlich nützlicher Arbeit bestreiten“.

Wer nicht arbeitet, kann das Wahlrecht verlieren. Man braucht unbequeme Leute nur aus jeder Stellung zubringen, und sie werden des Wahlrechts verlustig. Und was ist produktive und nützliche Arbeit?

Leisten die „Bourgeois“ solche? Notabene, Kapitalisten und Großgrundbesitzer gibt es in Rußland nicht mehr, sie sind ja alle enteignet. Aber unter Umständen können dort auch Ingenieure oder höhere Lehrer als unproduktive Arbeiter betrachtet werden.

Die Willkür, der diese Bestimmung Tür und Tor öffnet, tritt am auffallendsten gegenüber der bäuerlichen Bevölkerung zutage. Es gab Zeiten, wo es den Herren im Kreml paßte, alle Bauern, auch die wohlhabenden, unter die produktiven und nützlichen Arbeiter einzureihen und ihnen das Wahlrecht zu verleihen. Meist aber wurde es den besser situierten vorenthalten. Mitunter schloß man sogar die Mittelbauern vom Wahlrecht aus, beschränkte es auf die „Dorfarmen“, das heißt auf diejenigen, denen Boden und Inventar fehlten, um auch nur so viel Lebensmittel zu produzieren, als sie selbst brauchten. Ja, die Kolchosenepidemie, von der wir eingangs gehandelt haben, führte sogar stellenweise dazu, daß „Dorfarme“ des Wahlrechts – und auch des Restes ihrer Habe – beraubt wurden, wenn sie den Kolchosen widerstrebten.

Hier tritt wohl am krassesten die vollständige Willkür der Kommunistischen Partei und ihrer Regierung zutage, der die ganze Bevölkerung Sowjetrußlands unterworfen ist.

Im übrigen haben die Sowjets und damit auch die Wahlen zu ihnen in letzter Zeit alle Bedeutung verloren. Politische Macht wird nicht von den Sowjets verliehen, sondern von der Kommunistischen Partei. Deren „Politbüro“ bildet die höchste Instanz für Gesetzgebung und Verwaltung des Staates. Das Zentralexekutivkomitee der Sowjets hat jede reale Bedeutung verloren. Die Sowjetverfassung ist nur noch eine Fiktion. Auf dem letzten kommunistischen Parteitag in Moskau erklärte Krylenko unverfroren: „Die Sowjetgesetze sind nichts anderes als die Weisungen der Partei.“

Auch hier wieder dürfen wir fragen, welche von allen diesen Bestimmungen wir als revolutionäre zu betrachten haben, welche als gegenrevolutionäre? Wo steckt da die Revolution, die wir gegen die drohende Konterrevolution zu schützen haben?
 

c) Die Demokratisierung der Sowjets

Nicht wenige unter uns suchen das Revolutionäre der Sowjetverfassung in der bevorzugten Stellung, die sie den Arbeitern und ihren Räten einräumt. Sie sehen nicht, daß die politische ebenso wie die soziale Bevorzugung der Lohnarbeiter in Sowjetrußland sehr teuer erkauft wird mit ihrer moralischen, intellektuellen, ökonomischen Degradation und ihrer Unterwerfung unter die schrankenlose Willkür einer einzelnen Sektenorganisation, der Kommunisten.

Ich hoffe, im obigen gezeigt zu haben, daß diese Erscheinungen nicht etwa zufälligerweise miteinander zusammentreffen, sondern in notwendigem Zusammenhang untereinander stehen.

Darum müssen alle Versuche scheitern, die Sowjetverfassung dadurch zu erhalten, daß sie von ihren Flecken gereinigt wird. Einen solchen Versuch kann das Bestreben darstellen, diese Verfassung zu demokratisieren.

Eine dahingehende Parole wurde von einem bedeutenden Teil meiner menschewistischen Freunde schon bald nach der Sprengung der Konstituante ausgegeben. Paul Axelrod wendete sich sofort dagegen (vergleiche seine Observations sur la tactique des socialistes dans la lutte contre le bolchevisme, Paris 1921). Was er gegen die „Demokratisation der Sowjets“ sagte, behält heute noch seine Gültigkeit.

Trotzdem scheint dieses Streben noch nicht ganz aufgegeben zu sein. Der jüngste Aufruf der Exekutive der Sozialistischen Arbeiter-Internationale könnte sogar in diesem Sinne gedeutet werden. Es heißt dort:

„Den Völkern der Sowjetunion muß die Freiheit wieder gegeben werden, die Arbeitern und Bauern ebenso unentbehrlich ist, wie Luft und Wasser.“

Und dann werden verlangt:

„Freiheit des Wortes! Freiheit der Organisation! Freie und geheime Wahlen!“

Es berührt schon sonderbar, daß die Freiheit bloß für Arbeiter und Bauern unentbehrlich sein soll, nicht für alle Menschen. Und dann: warum werden bloß freie und geheime Wahlen verlangt, nicht auch das allgemeine, gleiche Wahlrecht?

Sogar das Programm der Bolschewiks verlangte noch zu der Zeit, als sie die Konstituante verjagten, das „allgemeine, gleiche, direkte, geheime Wahlrecht“.

Natürlich denkt niemand in der Sozialistischen Arbeiter-Internationale daran, diese Forderung preiszugeben. Sollte es aber Genossen gehen, die glauben, für Rußland eine Ausnahme machen zu müssen? Als ob dort nicht notwendigerweise ebenso sehr, wie überall, eine Klasse dadurch, daß sie besondere Privilegien erhält, notwendigerweise korrumpiert und von jenen Elementen abhängig würde, von denen diese Privilegien geschaffen und verteidigt wurden.

Der Begriff der Demokratisation der Sowjets ist ein Widersinn in sich. Er bedeutet Demokratisierung einer privilegierten Aristokratie. Oder meint man, die Sowjets umfaßten die Gesamtmasse der Bevölkerung? Wozu dann der Abscheu vor dem so einfachen allgemeinen Wahlrecht und die Vorliebe für das verkünstelte Sowjetsystem?

Fürchtet man die Stimmen der gewesenen Kapitalisten und Großgrundbesitzer? Aber diese übten bisher politischen Einfluß nicht durch die Stimmzettel aus, die sie selbst abgaben – deren Zahl mußte stets minimal sein –, sondern durch die Macht ihres Geldes, Das und nicht das allgemeine gleiche Wahlrecht verleiht ihnen ihre politische Macht.

Doppelt unsinnig ist es, Kapitalisten und Grundbesitzer durch Entziehung des Wahlrechts dort politisch unschädlich machen zu wollen, wo sie expropriiert sind, also als Klasse nicht mehr existieren und als Personen alle Mittel verloren haben, die Bevölkerung zu beeinflussen.

Aber freilich, zur Bourgeoisie rechnet man auch Leute mit höherem Wissen. Dieses kann man nicht konfiszieren. Und der besser Gebildete gewinnt sich leicht einen großen Einfluß auf den schlechter Unterrichteten. Gegen die Gebildeten vor allem richtet sich das Sowjetsystem,weil es die Möglichkeit gibt, sie alle mundtot zu machen und von der Berührung mit dem Proletariat fernzuhalten – soweit sie nicht kommunistisch denken oder sich von den Kommunisten gebrauchen lassen.

Zur Demokratisierung gehört auch die genaue Feststellung der Rechte der Persönlichkeit gegenüber den Besitzern und Vertretern der Staatsgewalt. In der Autokratie und der Aristokratie gelten die Gesetze nur für die unteren Klassen und Stände, die oberen sind dadurch nicht gebunden. In der Demokratie setzen die Gesetze für die Behörden nicht bloß Rechte, für die Bürger nicht bloß Pflichten fest. Sie geben dem Bürger genau bestimmte Rechte, die er gegen jede Anmaßung von oben behaupten kann.

Mit diesem gesetzlichen Schutz der Persönlichkeit gegen jede behördliche Willkür ist das Sowjetsystem unvereinbar. Schon 1919 erklärte Lenin in seiner Streitschrift gegen mich (Die Diktatur des Proletariats und der Renegat Kautsky, S. 5):

„Die Diktatur ist eine unmittelbar auf Gewalt begründete Herrschaft, die an keine Gesetze gebunden ist.“

Diese Willkür wird im Sowjetsystem der Herrenklasse zuteil, den Kommunisten, gegenüber der Volksmasse. Noch größere Willkür wird den obersten Herren im Zentral-Exekutivkomitee gegenüber dem Volk und den Kommunisten verliehen.

Die Demokratisation der Sowjets muß mit einem bestimmten, eindeutigen Wahlgesetz für die Sowjets beginnen. Soll dies nicht ganz unsinnig sein, wird es der gesamten arbeitenden oder arbeitswilligen Bevölkerung das Wahlrecht geben. Dieses würde dadurch tatsächlich unter den gegebenen Bedingungen Rußlands zu einem allgemeinen und gleichen.

Und ebenso muß jeder weitere Versuch, den Arbeitern und Bauern größere Freiheit zu geben, darauf hinauslaufen, solche Freiheit dem ganzen Volke zu verleihen. Will man Pressefreiheit nur für Arbeiter und arme Bauern geben? Soll niemand außer ihnen eine Zeitung schreiben und lesen dürfen?

Die Demokratisierung der Sowjets ist eine widersinnige Vorstellung, die unsere Forderung der Demokratie für alle nicht ersetzen kann.

Trotzdem vermag sie noch historische Bedeutung zugewinnen. Es wäre möglich, daß diese Forderung bei fortschreitendem Versagen des kommunistischen Systems einen Teil der russischen Proletarier früher und leichter ergreift, als die des allgemeinen Wahlrechts. Der Mensch ist einmal von Natur aus konservativ und liebt es, selbst wenn er revolutionär vor geht, sobald er nicht bloß zerstören, sondern neues schaffen will, an das Bestehende anzuknüpfen, um es umzuwandeln.

So kann die Forderung der Demokratisierung der Sowjets einer der Ansatzpunkte werden, um der kommunistischen Herrschaft ein Ende zu bereiten. Wo eine solche Forderung spontan auftritt, kann es von Nutzen sein, sie zu unterstützen. Doch werden wir gut tun, uns dabei dessen bewußt zu bleiben, daß diese Demokratisierung nicht zu einer Verbesserung des Sowjetsystems führen kann. Ihre Bedeutung besteht darin, daß sie gerade wegen ihrer Widersinnigkeit über sich hinaus zur völligen reinen Demokratie treibt.

Und wir haben alle Ursache, stets zu betonen, daß eine solche Demokratie unser politisches Ziel ist.

Wir dürfen nicht vergessen, daß das Proletariat die großen historischen Aufgaben, die ihm durch seine gesellschaftliche Stellung auferlegt werden, nicht lösen kann ohne Mitwirkung der Intellektuellen: die Wissenschaft und die Arbeiter, wie es Lassalle formulierte. Nur das Proletariat kann der sozialistischen Bewegung jene gesellschaftliche Kraft verleihen, ohne die sie nicht zu siegen vermag. Nur höher Gebildete, die mit ihm und seinen Zielen sympathisieren, können jene tiefere Einsicht erwerben und verbreiten, die notwendig ist, soll die proletarische Bewegung nicht im Finstern vorwärtstappen, sondern klar und bestimmt vorwärtsmarschieren und ihre Siege voll ausschöpfen.

Die Intellektuellen sind, wie ich schon oft betonte, keine Klasse, sondern eine Schicht, die bisher überwiegend der Kapitalistenklasse anhing, aber durch kein Klasseninteresse an sie gebunden ist. Je höher das Proletariat steigt, desto anziehender wirkt es auf die Intellektuellen, desto größer die Zahl derjenigen aus ihren Reihen, die sich ihm anschließen. Diesen Prozeß zu fördern ist eine der wichtigsten Aufgaben der Sozialdemokratie.

In Rußland, wo die Intellektuellen durch die politische Rückständigkeit besonders intensiv oppositionell waren, anderseits das Kapital besonders rückständig und im Vergleich zu ihm das Proletariat in den letzten Jahrzehnten vor dem Krieg besonders hochstehend – dort war die Neigung der Intellektuellen zu der proletarischen Sache größer, als in den Staaten des Westens. Und gleichzeitig bedurfte ihrer das russische Proletariat noch mehr angesichts der furchtbaren Unbildung der arbeitenden Bevölkerung infolge des Mangels an Schulen und Zeitungen.

Nirgends ist ein enges Zusammenarbeiten breiter Schichten von Intellektuellen mit dem Proletariat so leicht möglich, so sehr nötig, nirgends kann es bessere Früchte tragen als in Rußland.

Die Revolution des März 1917 eröffnete dafür die besten Aussichten, sobald einmal der unglückselige Krieg liquidiert war. Die beiden bolschewistischen Staatsstreiche vom November 1917 und Januar 1918 haben dieses Zusammenarbeiten brutal unterbrochen, das Proletariat mit Haß und Mißtrauen gegen jeden Intellektuellen erfüllt, der nicht auf die kommunistische Fahne schwor. Die Kommunisten stellten alle anderen Intellektuellen Verbrechern gleich.

Damit führten die Bolschewiks aus kurzsichtigem Fraktionsegoismus einen tiefen Zwiespalt zwischen den zwei fortgeschrittensten Elementen Rußlands herbei, deren Zusammenwirken allein aus der russischen Revolution jene Früchte hervorholen kann, die zu tragen sie der allgemeine Zustand Rußlands befähigt.

Eine der wichtigsten Aufgaben seiner wirklichen Revolutionäre besteht darin, dieser unglückseligen Hemmung und Verkümmerung der Revolution ein Ende zu machen. Das ist unmöglich auf Grund des Sowjetsystems, das jeden Intellektuellen entrechtet, der sich nicht zum gefügigen Werkzeug der Diktatur herabwürdigt. Nur die Herstellung völliger demokratischer Gleichheit kann den Gegensatz zwischen Intellektuellen und Proletariern überbrücken, der zum großen Schaden beider Teile durch bolschewistische Gewalttat aufgerissen wurde.

Darüber sollen wir keinen Zweifel lassen. Wir dürfen unter Umständen die Forderung der Demokratisierung der Sowjets als Übergang zur vollen Demokratie benutzen, wir dürfen sie nie als Ersatz für eine solche Demokratie akzeptieren.
 

d) Jakobiner oder Bonapartisten

Wir haben das Sowjetsystem von den verschiedensten Seiten beleuchtet, der ökonomischen, sozialen, politischen. Doch ist es uns nirgends gelungen, einen Fortschritt über das hinaus zu erblicken, was die russische Revolution seit dem März 1917 bis zu dem Staatsstreich der Bolschewiks entweder schon errungen oder angebahnt hatte und was zum Ausgangspunkt eines raschen Aufstiegs Rußlands und seiner arbeitenden Klassen geworden wäre. Was die Bolschewiks seitdem hinzugefügt haben, war sicher in ihrer Absicht und noch mehr in ihrer Phraseologie etwas überwältigend Herrliches. In Wirklichkeit erwies es sich bloß als Hemmung, Verkümmerung, Lähmung alles dessen, was die Revolution bis zur Machtergreifung des Bolschewismus geleistet hatte.

Das wurde eine Zeitlang von manchen Revolutionären bestritten, sogar in unseren Reihen. Aber die Zahl derer, die noch den steten Niedergang Rußlands auf allen Gebieten unter dem Sowjetregime leugnen, mindert sich von Jahr zu Jahr. Die Tatsachen sprechen zu eindrucksvoll für jeden, der überhaupt ihrer Sprache zugänglich, kein verbohrter Illusionär ist.

Hat man aber unter diesen Umständen nicht das Recht, das Wirken der Bolschewiks als ein gegenrevolutionäres zu bezeichnen?

Die Freunde des Bolschewismus, die keine Tatsachen zu seinen Gunsten zu präsentieren wissen, helfen sich mit einem historischen Vergleich. Sie weisen auf die große französische Revolution hin. So wie damals sei es auch jetzt gegangen. Zunächst gab es nach 1789 neben den konstitutionellen Monarchisten, die Schwächlinge der Revolution, die Girondisten. Diesen letzteren entsprachen 1917 die Sozialrevolutionäre und die Menschewiks. Über diese Schwächlinge erhoben sich die wahren Revolutionäre, die allein genug Kraft und Energie aufwandten, die Revolution zum Siege zu führen, das waren von 1792 bis 1794 die Männer des Schreckens, die Jakobiner, die Bergpartei.

Niemand wird diese als Gegenrevolutionäre bezeichnen wollen. Nun, was damals die Jakobiner waren, das seien in unseren Tagen die Bolschewiks.

Dem ist entgegenzuhalten, daß ein Vergleich keinen Beweis bildet. Bei einem Vergleich zweier ähnlicher Vorgänge miteinander kann der eine wohl helleres Licht auf den anderen werfen. Der Vergleich kann jedoch auch sehr irreführen, wenn er ohne genügende Beachtung nicht bloß des Gemeinsamen, sondern auch des Verschiedenen vorgenommen wird und man sich bloß an Äußerlichkeiten hält. Die Jakobiner unterschieden sich von den Bolschewiks schon dadurch, daß sie eine bürgerliche oder kleinbürgerliche Partei waren, keine sozialistische. Eine solche fand am Ende des 18. Jahrhunderts noch keinen Boden.

Aber auch die Umstände, unter denen sie emporkamen,waren 1792 und 1793 ganz andere als diejenigen, die 1917 den Bolschewiks in den Sattel verhalfen. Wohl gab es beide Male Krieg. Doch 1792 entsprang er aus der Revolution, 1917 dagegen entsprang die Revolution aus dem Krieg. Die Schreckensmänner der großen französischen Revolution gewannen ihre Kraft dadurch, daß sie diejenigen waren, die in der Bedrängung durch den äußeren Feind am energischsten und rücksichtslosesten die Kriegführung betrieben.

Die Schreckensmänner von 1917 dagegen, die die Konstituante sprengten, gewannen ihre Kraft dadurch, daß sie am entschiedensten und rücksichtslosesten die Kapitulation vor dem Landesfeind nicht nur forderten, sondern herbeiführten.

Der Terror in der französischen Revolution war eine Wirkung nicht der Revolution, sondern des Krieges. Er hörte auf, sobald die Bedrängung Frankreichs durch den Landesfeind ein Ende nahm. Er dauerte nur zwei Jahrelang.

Man hätte erwarten dürfen, in gleicher Weise werde der Terror in Rußland aufhören, sobald die Ära der Bürgerkriege und des „Kriegskommunismus“ zu Ende sei. Der Frieden werde wirtschaftliche Erholung bringen, ein Nachlassen der Diktatur in Ökonomie und Politik. Das war die Zeit, in der die Idee der Demokratisierung der Sowjets auftauchte.

Aber wir wissen, daß es ganz anders kam. Der Terrorist im bolschewistischen System nicht eine bloße Kriegsmaßregel. Er wurzelte sich vielmehr in den zehn Jahren des Friedens seit 1920 immer tiefer ein.

Einen Moment schien es nach der Niederschlagung der letzten weißen Armee, als trete ein Umschwung ein.

Der Bürgerkrieg und der ökonomische Ruin hatten solches Elend erzeugt, daß viele der Bolschewiks selbst irre an ihren Führern wurden und sich gegen sie empörten. Daher Ende Februar 1921 ein Generalstreik in Petersburg und Moskau und im Anschluß daran ein Aufstand der Kerntruppen des Bolschewismus, denen er am meisten seine Siege bis dahin verdankt hatte, der Matrosen, die sich in Kronstadt (bei Petrograd) empörten.

Die Fortdauer des Terrors, das heißt der gewalttätigen Willkürherrschaft der Kommunisten über das ganze arbeitende Volk erschien unerträglich.

Am 27. Februar zirkulierte unter den Streikenden eine Proklamation folgenden Inhalte:

„Eine gründliche Änderung der ganzen Politik der Regierung ist notwendig, und in erster Linie müssen die Arbeiter und Bauern die Freiheit haben. Sie wollen nicht der bolschewistischen Führung folgen, sie wollen selbst über ihr Schicksal entscheiden.

Ihr müßt dringend und in organisierter Weise folgendes verlangen: Die Befreiung aller verhafteten Sozialisten und parteilosen Arbeiter, die Aufhebung des Belagerungszustandes, die Freiheit des Wortes, der Presse und der Versammlungen aller arbeitenden Klassen. Freie Neuwahlen in die Fabrikkomitees, in die Gewerkschaftsverbände und in die Sowjets. Organisiert Versammlungen, verkündet Resolutionen, schickt zu den Behörden Eure Delegationen, bemüht Euch, Euren Willen durchzusetzen.“

Diese Proklamation war offenbar ein Werk jener menschewistischen Richtung, die sich auf die Demokratisierung der Sowjets beschränken wollte. Es steht in der Proklamation kein Wort von der Konstituante; keine allgemeine politische Amnestie wird gefordert, sondern nur die Freilassung der Sozialisten und der parteilosen Arbeiter. Die Freiheit des Wortes usw. wird auch nur für die Arbeiter verlangt. Endlich wurden die Arbeiter bloß aufgefordert zu demonstrieren und zu petitionieren.

Indes auch die Durchsetzung dieser Forderungen wäre ein gewaltiger Fortschritt gewesen. Die Kommunisten fühlten ihr Parteimonopol im Staate bedroht. Die Illustrierte Geschichte der russischen Revolution 1917 (Berlin, Willi Münzenberg, 1928), in der diese und noch eine andere Proklamation (wahrscheinlich eine sozialrevolutionäre) vom 28. Februar 1921 abgedruckt wird, bemerkt dazu:

„Es ist gar nicht erstaunlich, daß die Menschewiks und Sozialrevolutionäre ... derartige Flugblätter verbreiteten. Das geschah auch früher. Neu aber war, daß sie gelesen wurden und sogar Eindruck machten. Die Sowjetregierung verspürte in diesen neuen Erscheinungen eine große politische Gefahr, die das Werk der Arbeiterklasse zu bedrohen schien.“ (S. 559)

Das „Werk der Arbeiterklasse“, das bedeutet in kommunistischer Phraseologie das Werk der bolschewistischen Partei unter diktatorischer Führung.

Noch ernster wurde die Gefahr, als die Matrosen sich der Sache der Freiheit der Arbeiter und Bauern annahmen. Sie schickten nicht Delegierte zu den Behörden, sondern handelten so, wie Lenin und Trotzki es sie gelehrt hatten: sie griffen zu den Waffen.

Sie waren die Wortführer nicht der städtischen Arbeiter, sondern der Bauern. Das eben zitierte Werk sagt,sie waren „als Matrosen verkleidete Bauernburschen“(S. 560).

Aus den Nachrichten des revolutionären Komitees, das die Ausständischen in Kronstadt herausgaben, wurden in der Illustrierten Geschichte der russischen Revolution eine Reihe von Äußerungen zitiert, die alle bezeugen, wie tiefgehend damals schon, kaum daß die weißgardistische Gefahr beseitigt schien, der Haß gegen die Kommunisten auf dem Dorfe war. Es ist bezeichnend, und für das Verständnis der heutigen Situation Sowjetrußlands wichtig, daß die Bauern besonders über die Einrichtung bevorzugter Großbetriebe auf dem Lande empört waren. Ein Matrose Kopteloff schrieb:

„Von ihren blutbesudelten Bühnenbrettern herab schreien sie, daß der Boden den Bauern und die Fabriken den Arbeitern gehören. Indessen haben die Kommunisten überall kommunistische Wirtschaften (Gutshöfe) eingerichtet, wobei sie die besten Grundstücke für diesen Zweck gewählt und sieh den armen Bauern noch schwerer und schlimmer auf den Buckel gesetzt haben, als der Gutsbesitzer es früher getan hatte.“ (S. 561)

Erwähnenswert ist noch folgender Satz:

„Es entstand eine neue kommunistische Leibeigenschaft. Der Bauer wurde in den Sowjetwirtschaften zum Knecht, der Arbeiter in den Fabriken zum Taglöhner. Die arbeitende Intelligenz ging zugrunde.“

So betrachteten die Bauern schon 1921 den Segen, den ihnen der Bolschewismus gebracht hatte.

Die Intelligenz mochte zugrunde gehen oder ein Helotendasein fristen. Und mit den Arbeitern glaubte Lenin schon fertig zu werden. Aber die Bauern und die Armee respektierte er. Wohl gelang es, den Kronstädter Aufstand blutig niederzuschlagen, aber seine Warnung war nicht in den Wind gesprochen. Als das einzige Mittel, auf die Bolschewiks einzuwirken, hat sich bisher der bewaffnete Aufstand oder die Drohung eines solchen erwiesen – der Aufstand der „als Matrosen“ oder Soldaten „verkleideten Bauernburschen“. Das galt im März 1921 für Lenin, das galt im März 1930 für Stalin.

Als Antwort auf den Aufstand verkündete Lenin die „neue ökonomische Politik“ (Nep). Sie lockerte die Zügel der Diktatur für die Warenproduktion und den Warenhandel in der Stadt wie auf dem Lande:

„Von nun an wurde der ‚Kommunismus‘, der seine Praxis drei Jahre lang aus geübt hatte, in dessen Namen Hunderttausende von Menschen in Gefängnisse, in Konzentrationslager, in die Keller der Tscheka und von dort in den Tod gegangen waren, nicht mehr als „sozialistische Aufbauarbeit“ bezeichnet, sondern als traurige Notwendigkeit, aufgedrängt durch den Bürgerkrieg, als Kriegskommunismus.“ (Th. Dan, Sowjetrußland, wie es wirklich ist, Prag 1926, S. 33)

Doch diejenigen irrten sehr, die meinten, daß nun eine neue Ära freier Bewegung der Arbeiter nicht nur im Produktionsprozeß, sondern auch in der Politik beginne.

Selbst auf dem Gebiete der Ökonomie war die neue Freiheit nicht weit her, und nicht lange dauernd, eine bloße „Atempause“. Wohl hätten die Bolschewiks gern dem fremden Kapital Konzessionen gemacht, um ihm Lust zu machen, nach Bußland zu strömen, denn sie bedurften seiner um so mehr, je mehr die eigene Industrie versagte. Doch auf ihr Willkürregiment wollten und konnten sie nicht verzichten, ohne ihre eigene Herrschaft zu untergraben. Ohne Sicherheit des Eigentums aber keine Akkumulation und Investition von Kapital.

Die Nep blieb eine vorübergehende Erscheinung und daher mußte auch die ökonomische Anregung, die sie brachte, nur sehr kurzlebig sein. Je mehr sie aber versagte und versiegte, je mehr die Notlage von neuem stieg, desto rapider folgen einander die wildesten Experimente in Stadt und Land, denen allen nur eines gemeinsam ist: die stete Steigerung des Drucks auf Arbeiter und Bauern, die Lohnkürzung, die Intensivierung der Arbeit, vielfach Verlängerung der Arbeitszeit, und die Plünderung der wohlhabenden Bauern, denen zuerst ihre Geräte, ihr Inventar, dann auch ihr Boden genommen werden, wobei die Grenzlinie, bei der man einen „Wohlstand“ beginnen läßt, immer tiefer herabgedrückt wird.

Dies die Folgen von Kronstadt nach der ökonomischen Seite.

Nach der politischen brachten sie aber nicht einmal vorübergehend eine Besserung, sondern vielmehr sofort eine Verschlechterung.

Mit Schrecken hatten die Bolschewiks gesehen, daß die Ideen der Menschewiks und Sozialrevolutionäre auf Arbeiter und Bauern wieder zu wirken begannen, sobald diese Klassen Gelegenheit bekamen, eine freiere Sprache zu hören. Das mußte um jeden Preis verhindert werden. Die hermetische Abschließung der Arbeiter und Bauern vor jedem freien Luftzug wurde nun noch ängstlicher und konsequenter durchgeführt als bisher. Auch die geringste Möglichkeit, sich anders zu informieren, als durch die Presse und die Redner der Kommunistischen Partei, wurde ihnen genommen. Die Folgen dieser systematischen Abschließung und Irreführung wirken geistig verkümmernd nicht nur auf diejenigen, die niedergehalten werden, sondern auch auf die Herren selbst. Die Masse der Kommunisten in Rußland liest ja auch nur die kommunistische Presse und stellt sich die Welt so vor, wie sie dort geschildert wird. Wie können sie da eine vernünftige und zweckmäßige Politik betreiben?!

Die Massen dürfen nur erfahren, was den Herren paßt. Aber diesen selbst wird von ihren Untergebenen am liebsten das berichtet, was die hohen Herrschaften zuhören wünschen. Ein Autokrat, der nur durch seine Höflinge Informationen über die Welt bekam, wurde stets belogen. Das hat noch jedem derartig regierten Staat geschadet. Es gefährdet aber am meisten ein Regime, das, welches immer sein gegenwärtiger Charakter sein mag, doch revolutionären Ursprungs ist, das durch keine Tradition zusammengehalten wird und sich in einer Zeit wilder Stürme behaupten muß.

Je mehr seine Schwierigkeiten wachsen, desto mehr weiß es nur eine politische Methode, sich zu behaupten: die des Terrorismus. Was in der französischen Revolution nur eine Wirkung des Krieges in der Zeit der ärgsten Bedrohung durch den Landesfeind war, ist in Sowjetrußland eine Notwendigkeit für seine Herren geworden, die aus ihren Lebensbedingungen hervorgeht, und sich im Frieden nicht mindert, sondern immer noch steigert.

Die Rede, in der Lenin am 11. März 1921 die Neue Wirtschaftspolitik verkündete, schloß mit den Worten: „Die Sozialisten jedoch muß man in den Gefängnissen halten.“ (Th. Dan, Sowjetrußland, wie es wirklich ist, S. 34)

In den Anfängen ihrer Tätigkeit in der Revolution von 1917 mögen die Bolschewiks den Jakobinern ähnlich gewesen sein, obwohl auch da schon sehr große Unterschiede obwalteten. Aber seit ihren Staatsstreichen entfernen sie sich immer mehr von ihrer ursprünglichen Basis, wie sie ja auch über Nacht ein ganz neues, dem bisherigen direkt entgegengesetztes Programm annahmen. Nie haben die Jakobiner einen solchen Wandel vollzogen. Die blieben der Idee des Parlaments und des allgemeinen, gleichen Wahlrechts treu.

Nicht die Jakobiner waren es, sondern eine ganz andere Partei, die, obwohl sie aus der Revolution und dem Jakobinertum hervorging, doch keine Bedenken trug,ihr ganzes Programm sofort über Bord zu werfen, sobald sich die Gelegenheit zeigte, dadurch an die Macht zukommen und sich in ihr zu behaupten: diese Parteiwaren die Bonapartisten.

Will man schon zwischen der letzten russischen undder ersten französischen Revolution Vergleiche ziehen,dann muß man die Bolschewiks am ehesten nicht den Jakobinern, sondern den Bonapartisten gleich setzen.Diese bildeten nicht wie jene eine kurzlebige Herrschaftsorganisation in einer vorübergehenden, abnormen Situation, sondern begründeten eine länger dauernde Staatsverfassung, die für die Zeit des Friedens ebenso galt, wie für die des Krieges.

In der großen französischen Revolution gab es zwei Arten von Gegenrevolutionären. Die primitivsten unter ihnen waren die vertriebenen Herren, Mitglieder der bourbonischen Dynastie, sowie Adelige und Geistliche, die wieder in ihre früheren Herrschafts- und Ausbeutungsstellen zurückwollten. Gegenrevolutionäre dieser Art finden sich in jeder Revolution.

Neben ihnen erstellt aber unter Umständen – und solche bildeten sich in Frankreich während der Revolutionskriege – ein gegenrevolutionäres Element aus der Revolution selbst. Sobald der Umsturz des alten Regimes vollzogen ist, das die verschiedenen unterdrückten und ausgebeuteten Klassen und Schichten niederhielt, geraten diese in Kämpfe untereinander. Da kann es dahin kommen, daß eine der revolutionären Klassen oder Parteien so sehr die Übermacht über alle anderen gewinnt, daß sie die Früchte der Revolution für sich monopolisiert und die übrigen Revolutionäre insgesamt zu derselben Machtlosigkeit und Unbeweglichkeit verurteilt, zu der sie schon vor der Revolution gezwungen waren. Damit wird die Revolution für den größten Teil der revolutionären Klassen zunichte gemacht.

Bezeichnete man in der großen französischen Umwälzung die primitivste Art der Gegenrevolutionäre als Legitimisten, Anhänger der legitimen Monarchie, so die aus der Revolution selbst hervorgegangenen Gegenrevolutionäre als Bonapartisten, nach ihrem Chef, dem General Napoleon Bonaparte, den sie schließlich zum Kaiser machten.

Der Gegensatz der legitimistischen und der bonapartistischen Gegenrevolution wiederholte sich in Frankreich nach dem Niedergang der Revolution von 1848.

Unter anderem unterscheiden sich diese beiden Arten von Gegenrevolution dadurch, daß die primitive, wie sie z. B. in Österreich und Preußen 1849 eintrat, sich offen als solche kundgibt. Die bonapartistische Form behält dagegen das revolutionäre Gehaben möglichst bei, vielfach sind sich ihre Vertreter selbst ihrer gegenrevolutionären Funktionen nicht klar bewußt. Es dauerte Jahre,ehe der erste Napoleon so weit ging, sich zum Kaiser zu erheben – zum Kaiser von Volkes Gnaden, durch eine Volksabstimmung eingesetzt, die im Mai 1804 stattfand, worauf er sich im Dezember desselben Jahres die Krone aufsetzte. Ohne seine Eitelkeit hätte er die Würde des ersten Konsuls der Republik, die er am 18. Brumaire errungen, bis an sein Lebensende bekleiden können, mit den gleichen gegenrevolutionären Funktionen, die er als Kaiser ausübte, und doch wäre er vor der Welt als Revolutionär und nicht als Gegenrevolutionär dagestanden.

Die bonapartistische Form der Gegenrevolution ist also nicht so leicht herauszufinden, wie die primitive. Sie hat in ihren Anfängen noch viel mit der echten Revolution gemein, kann als deren Fortsetzung, ja mitunter als deren Vervollkommnung gelten. Doch ist sie stets auf der Unterdrückung eines Teils der Revolutionäre und auf der Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Massen aufgebaut und muß daher, je länger sie besteht, um so mehr ihren gegenrevolutionären Charakter enthüllen.

So ging es in Frankreich zur Zeit seiner großen Revolution. So geht es jetzt in Rußland seit 1917. Die Versuche einer primitiven Gegenrevolution traten frühzeitig auf, die Erhebungen der „Weißgardisten“ Korniloff, Denikin, Koltschak, Wrangel. Aber ist das die einzige Art der Gegenrevolution, die auf trat? Das Manifest der Exekutive der S.A.I. vom Mai dieses Jahres spricht nur von „weißen Konterrevolutionären“, vor denen man die russische Revolution zu schützen hat. Von einer bonapartistischen Gegenrevolution spricht es nicht.

Nun gibt es zahlreiche menschewistische Stimmen, die darauf hinweisen, daß der Bolschewismus zu einem neuen Bonapartismus zu entarten drohe. Aber droht diese Gefahr erst jetzt? Ist sie nicht schon früher eingetreten?Ist der Bolschewismus nicht schon längst zu einem wahrhaften Bonapartismus seit den Staatsstreichen vom November 1917 und Januar 1918 geworden? Und hat er seitdem nicht nach und nach alle Bewegungsfreiheit der Arbeiter und Bauern aufgehoben, nachdem er bei seinem Beginn bereits alle Intellektuellen vogelfrei gemacht hatte, die nicht in seinem Lager standen? Was soll denn Stalin noch leisten, um zum Bonapartismus zu kommen? Glaubt man, der sei erst dann erreicht, wenn Stalin sich zum Zaren krönen lasse? Seit dem Ausbruch der großen französischen Revolution sind fast anderthalb Jahrhunderte verflossen. Sie waren der Erbmonarchie nicht günstig. Fast keine der seitdem neu auf gerichteten Monarchien hatte Bestand, viele der alten sind verschwunden. Nicht einmal Mussolini hält es der Mühe wert, eine neue Dynastie zu begründen. Ist er deswegen nicht der eingefleischteste Vertreter der Gegenrevolution?

Der Faschismus ist aber nichts als das Gegenstück des Bolschewismus, Mussolini nur der Affe Lenins.

Der Ausgangspunkt war hier freilich ein ganz anderer als dort. Der Faschismus zeigt, daß die bolschewistischen Methoden der Diktatur zur Knebelung des Proletariats ebenso benutzt werden können, wie zur Knebelung seiner Gegner. Beim Vergleich beider finden wir aber auch, daß das, was beim Faschismus von vornherein Absicht ist, die Einschnürung aller proletarischen Bewegungsfreiheit, beim Bolschewismus unausbleibliches Resultat wird. Die bolschewistischen Methoden können nicht nur, sie müssen notwendigerweise zur Knebelung des Proletariats führen, wenigstens dort, wo die Industrie und Landwirtschaft verkommen und damit die Lage der arbeitenden Klassen in Stadt und Land unerträglich wird. Und dieser ökonomische Niedergang wieder ist eine unausbleibliche Folge jeder bolschewistisch-faschistischen Einschnürung des Produktionsapparates.

Die bonapartistische oder wenn man lieber will, die faschistische Entartung des Bolschewismus ist also nicht eine Gefahr, die in einer fernen Zukunft droht, sondern ein Zustand, in dem Rußland schon seit etwa einem Jahrzehnt steckt. Die Arbeiter- und Bauernfeindlichkeit, zu der die bolschewistischen Methoden naturgemäß führen, entwickelte sich allerdings erst allmählich, hat jedoch in den letzten Jahren so furchtbare Dimensionen erreicht, daß sie bereits, im Zusammenhang mit dem drohenden völligen Zusammenbruch der Landwirtschaft das bolschewistische System mit jener Katastrophe bedroht, von der wir schon eingangs gesprochen haben und die es notwendig macht, sich mit den russischen Zuständen mehr als je zu beschäftigen.

Die Kompliziertheit und Vieldeutigkeit, die der Begriff der Revolution in Rußland seit einem Dutzend Jahren erlangt hat, wird noch gesteigert dadurch, daß es dort zwei Arten der Gegenrevolution gibt, die primitive oder „weißgardistische“, und die bonapartistische oder faschistisch-bolschewistische.

Wer auf dem Standpunkt des demokratischen Sozialismus steht, muß natürlich beide bekämpfen. Aber man sollte annehmen, daß man dabei in jedem Moment die vollste Kraft gegen jene Art der Gegenrevolution wendet, die gerade an der Macht ist, und nicht gegen jene, deren Kommen nur befürchtet wird, noch gar nicht feststeht. Es fiel den Republikanern Frankreichs unter Napoleon nicht ein, deshalb auf den Kampf gegen das Kaiserreich zu verzichten, weil dieses auch von den Legitimisten befehdet wurde.

Dabei macht man meist die Beobachtung, daß die aus der Revolution hervorgehende Gegenrevolution weit kraftvoller ist, von energischeren Schichten getragen wird, als die primitive Gegenrevolution, deren Träger schon vor dem Umsturz, der sie vertrieb, alle Lebenskraft eingebüßt hatten. Wie viel stärker war das Kaiserreich des ersten Napoleon als das Königtum Ludwig XVI. oder selbst als das höchst reaktionäre Königtum Ludwigs XVIII. und Karls X.! Um Napoleon zu stürzen, mußte sich ganz Europa gegen ihn verbinden. Die Bourbonen wurden vom Pariser Proletariat in einer Straßenschlacht von drei Tagen verjagt.

Allerdings, Stalin sitzt weit weniger sicher als ehedem Napoleon. Dieser hatte alle die Energien, über die er verfügte, dazu benutzt, die Feinde Frankreichs zu besiegen und zu plündern. Stalin benützt alle Mittel der Gewalt, die ihm zu Gebote stehen, nur noch dazu, um die Arbeiter und Bauern Rußlands zu bekriegen und zu plündern. Das vermindert sehr die Gefahr dieser Art Bonapartismus für das übrige Europa. Aber für Rußland wird sie zur schlimmsten, weil kräftigsten Erscheinungsform der Gegenrevolution.


Zuletzt aktualisiert am: 2. April 2018