Karl Kautsky

Richtlinien für ein sozialistisches Aktionsprogramm

(Januar 1919)


Ursprünglich veröffentlicht als Broschüre von Druck Julius Sittenfeld, Berlin W S, 1919.
Transkription: Ben Lewis.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Am 9. November 1918 hat das Proletariat Deutschlands die politische Macht erobert. Seine große Mehrheit steht auf dem Boden des Programms, das sich die deutsche Sozialdemokratie 1891 auf dem Erfurter Parteitag gegeben hat.

Jetzt gilt es, an die rascheste Anwendung des Programms zu gehen. Um das planmäßig und einheitlich durchzuführen, dazu reichten seine allgemeinen Sätze nicht aus. Dazu bedarf es der Formulierung eines besonderen Aktionsprogramms. Die Verständigung aller wahrhaft sozialdemokratisch Gesinnten über ein solches Programm ist dringend notwendig geworden, um das Proletariat in den Stand zu setzen, einmütig sowohl seine politische Macht zweckmäßig anzuwenden, wie um sie zu behaupten, wo sie gefährdet ist, oder endlich, um sie wiederzugewinnen, wenn sie ihm vorübergehend entgleiten sollte.

Die Richtlinien eines solchen Aktionsprogramms legen wir zur Diskutierung vor.
 

I. Demokratisierung

Am 9. November hat das deutsche Volk die demokratische Republik erobert. Das ist die unerlässliche politische Grundlage des neuen Gemeinwesens, das wir aufbauen wollen. An ihr müssen wir unerschütterlich festhalten, sie müssen wir konsequent nach allen Richtungen aufbauen.

Marx erklärte in einem Brief über die Pariser Kommune vom 12. April 1871: „Die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent bestehe darin, nicht mehr wie bisher die bureaukratisch-militärische Maschinerie, aus einer Band in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen.“

Das ist auch unsere Aufgabe. Dazu gelten vor allem die schleunigste Auflösung des stehenden Heeres und die völlige Aufhebung der Herrschaftsstellung, die das Offizierkorps in ihm und durch es im Staat bisher einnahm. An Stelle des stehenden Heeres soll eine Volkswehr treten mit einer kurzen Ausbildungszeit von zwei bis drei Monaten für den Mann. Auch die Offiziere der unteren Grade sollen nicht berufsmäßige Soldaten sein, sondern ihre Ausbildung neben ihrem Zivilberuf empfangen. Bloß die Instruktionsoffiziere und die der höheren Grade sollen Berufssoldaten bleiben. Außerdienstlich soll weder Uniform noch Waffe getragen werden und soll dem Vorgesetzten keinerlei Kommandogewalt über den Untergebenen zustehen.

Kommt es zu einem internationalen Abkommen über Abrüstung, dann ist auch die Ausdehnung der Volkswehr dem anzupassen.

Die Macht der staatlichen zentralisierten Bureaukratie ist zu brechen durch die Unterordnung unter eine nach freiestem demokratischen Wahlrecht gewählte Nationalversammlung sowie durch sofortige Verleihung der Rechte weitgehender Selbstverwaltung (im Rahmen der Staatsgesetze) an die Stadtgemeinden und Landkreise sowie die Provinzen. Auch die Polizeigewalt ist vom Staat an die Gemeinden und Kreise ausnahmslos zu übergeben. Den obersten Träger dieser Selbstverwaltung bildet überall eine nach demokratischem Wahlrecht erwählte Gemeinde-, Kreis- und Provinzialversammlung. Den von diesen Versammlungen eingesetzten und kontrollierten Verwaltungskörpern kann der Staat auch einen Teil seiner Verwaltungsaufgaben übertragen, z. B. die Steuererhebung.

Dass die gewonnenen demokratischen Rechte, wie die Freiheit der Presse, der Versammlung, der Vereinigung, zu schützen sind, ist selbstverständlich.
 

II. Hebung der Produktion und Sozialpolitik

Die deutsche Republik soll eine demokratische Republik sein. Sie soll aber mehr werden, sie soll eine sozialistische Republik werden, ein Gemeinwesen, in dem die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen keine Stätte mehr hat.

Jedoch noch dringlicher als die Frage der Produktionsweise ist die der Produktion selbst. Der Krieg hat die Produktion gewaltsam unterbrochen. Sie wieder zu beleben und in Gang zu bringen, ist unsere dringendste Aufgabe. Sie bildet die Vorbedingung jedes Versuchs einer Sozialisierung der Produktion.

Die Produktion bedarf der Produktionsmittel und der Arbeiter. Die nächste Aufgabe der Staatsgewalt ist es, die uns fehlenden Lebensmittel aus dem Auslande zu beschaffen, die die Arbeiter arbeitsfähig machen, und der Industrie Rohstoffe zuzuführen. Wo nicht genügend Rohstoffe für alle Betriebe eines Industriezweiges beschafft werden können, sind vor allem die technisch höchststehenden Betriebe zu versorgen unter Kautelen, wie sie schon wahrend des Krieges für die Stillegung von Betrieben vorgesehen wurden.

Was die Arbeiter anbelangt, so ist neben der Erwerbslosenunterstützung und eine Arbeitsvermittlung einzurichten, die sich über des ganze Reich ausdehnt und die zu gleichen Teilen aus Vertretern der Arbeiter, der Unternehmer sowie der Republik besteht. Diese Arbeitsvermittlung muss das Recht haben, für jeden Produktionszweig und jede Gegend Mindestlöhne und Maximalarbeitszeiten sowie sonstige Arbeitsbedingungen festzusetzen. Sie verweigert es, Betrieben Arbeiter zuzuweisen, die jene Festsetzungen ablehnen. Andererseits verliert ein Arbeiter seinen Anspruch auf Erwerbslosenunterstützung„ der sich ohne triftigen Grund weigert, Arbeit in einem Betrieb anzunehmen, für den er vorgebildet ist und der die Arbeitsbedingungen der Arbeitsvermittlung anerkennt.

Der Streik ist ein unerlässliches Mittel für den Arbeiter, sich kapitalistischer Unterdrückung zu erwehren und bessere Lebensbedingungen zu erkämpfen in einem Staate, in dem die Staatsgewalt in den Händen der Kapitalistenklasse ist. Aber dieses Mittel ist ein zerstörendes, in gleicher Weise wie der Krieg der Waffen.Ein Staat, in dem die politische Gewalt in den Händen der Arbeiter ist, muss trachten, für jene Produktionszweige, in denen er noch nicht das Kapital ökonomisch ausschalten kann, andere Methoden zur Wahrung der Ansprüche der Arbeiter einzuführen, Methoden, die den Produktionsprozess weniger hemmen und stören. Das ist namentlich wichtig heute, nachdem der Krieg Deutschland so unendlich verarmt hat, dass jeder Streik doppelt verheerend wirkt. Wir verlangen, dass jene Produktionszweige, deren sofortige Sozialisierung nicht möglich ist, soweit sie dazu geeignet sind, durch den Staat zwangsweise syndiziert werden. Das Syndikat hat die Beschaffung der Rohstoffe, den Absatz der Produkte sowie die Reglung der Produktionsbedingungen zu besorgen. Es hat auch das Recht,überflüssige oder unrationelle Betriebe stillzulegen. In seine Leitung werden gewählt zu einem Viertel Vertreter der Unternehmer, zu einem Viertel Vertreter der Arbeiterräte, endlich zu einem dritten Viertel die der organisierten Konsumenten des Produktionszweiges – etwa Industrielle, wenn der Produktionszweig Produktionsmittel fabriziert, oder Vertreter von Konsumgenossenschaften und Gemeinden, wenn er Konsummittel herstellt. Das letzte Viertel wird gebildet von Vertretern des Staates, die das Gesamtinteresse repräsentieren. Innerhalb der einzelnen Betriebe werden dem Unternehmer Arbeiterausschüsse oder Arbeiterräte zur Seite gestellt, die die Durchführung der Beschlüsse des Syndikats überwachen und dahin wirken, dass sie möglichst zweckmäßig und unter Wahrung der Arbeiterinteressen durchgeführt werden. Das passive Wahlrecht zu den Betriebsarbeiterräten haben auch Personen, die außerhalb des Betriebes stehen und vom Unternehmer ökonomisch unabhängig sind, wie etwa Ärzte und Angestellte von Arbeiterorganisationen. Ähnliche Arbeiterräte sollen auch in den nichtsyndizierten Betrieben eingerichtet werden.

Neben dieser Tätigkeit in den einzelnen Produktionszweigen muss der Staat die Sozialpolitik fördern durch allgemeine Arbeiterschutzgesetze. So ist der Achtstundentag auf alle Arbeitszweige auszudehnen, z. B. auch auf das Transportgewerbe (Eisenbahnen) und das Gastwirtsgewerbe. Ebenso das Verbot der Nachtarbeit von Frauen und Jugendlichen usw. Für die Landwirtschaft sind diese Bestimmungen der Eigenart des Betriebes anzupassen.
 

III. Die Sozialisierung

Hand in Hand mit diesen Versuchen der proletarischen Staatsgewalt, durch ihr Eingreifen dem Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit weniger zerstörende Formen zu geben, muss aber auch das Streben gehen, diesem Klassenkampf, der doch unter allen Umständen ein hemmendes und störendes Element der Produktion ist, seine Grundlage zu nehmen durch Sozialisierung der Produktion, die dem Arbeiter an Stelle des Kapitalisten die Gesellschaft, zu der er selbst gehört, als Besitzer der Produktionsmittel und Leiter der Produktion gegenüberstellt.

Dies durchzuführen, ist die wichtigste, ist die eigentliche Aufgabe der vom Proletariat beherrschten demokratischen Republik. Dadurch wird sie zur sozialen Republik und leitet eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit ein.

Aber gerade, weil diese Aufgabe so wichtig und weittragend ist, lässt sie sich nicht im Handumdrehen durchführen, sondern nur schrittweise und nach sorgfältiger Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse und Vorbereitung der Neuordnung.

Das Hauptmittel der Sozialisierung, aber nicht das einzige ist die Verstaatlichung des Eigentums an den Produktionsmitteln. Und das grundlegende unter allen Produktionsmitteln ist der Grund und Boden. Seine Verstaatlichung erfordert am wenigsten Schwierigkeiten, wenn man genau unterscheidet, wie das in England auch praktisch der Fall ist, zwischen dem Grund und Boden und den auf ihm oder in ihm eingerichteten Betrieben.

Man kann den Grund und Boden, soweit er in großen Betrieben bewirtschaftet wird, ohne weiteres verstaatlichen und die auf ihm oder in ihm befindlichen Betriebe zunächst in der bisherigen Weise weiter wirtschaften lassen. Die Produktion wird dadurch nicht im geringsten gestört, die Betriebsinhaber werden nur aus Grundeigentümern in Pächter verwandelt.

Sobald der Friede geschlossen und Klarheit geschaffen ist darüber, wieweit das deutsche Volk über sein Staats- und Reichseigentum eigentlich zu verfügen hat, steht nichts im Wege, ohne weiteres sämtliches großes Grundeigentum an Bergwerken, Wäldern und großen Gütern (etwa über 100 Hektar) sowie sämtlichen städtischen Grundbesitz (ohne die darauf stehenden Häuser) zu Staatseigentum zu erklären, gegen eine noch festzusetzende Entschädigung. Aus der Feudalzeit stammende Einnahmen aus dem Grundbesitz, z. B. Bergwerksregale und aus der Feudalzeit stammender Grundbesitz überhaupt, wie die meisten Fideikommisse und fürstlichen Besitztümer, die nicht auf dem Wege des Kaufs erworben wurden, bedürfen einer Entschädigung nicht.

Die auf dem staatlichen Grund und Boden stehenden Betriebe blieben zunächst noch Privatbetriebe, wenn auch als Staatspächter. Nach und nach waren sie zu sozialisieren. Bei den Waldungen ginge das ohne weiteres.

Auch bei den Bergwerken und Latifundien, den landwirtschaftlichen Riesenbetrieben, würde es keiner langen Vorbereitungen bedürfen.

Der Staatsbetrieb dürfte nicht nach der Schablone der bisherigen Betriebe einer zentralisierten Bureaukratie eingerichtet werden. Derartig eingerichtete Staatsbetriebe waren vielmehr umzuformen. Die Staatsbetriebe sind zu dezentralisieren, ihren Leitungen ist möglichste Selbständigkeit zu gewähren.

Nach Möglichkeit sollten nicht vereinzelte Betriebe, sondern ganze Industriezweige verstaatlicht werden.Jeder dieser Industriezweige wäre, wie auch deutschösterreichische Genossen in einem Entwurf über die Sozialisierung verlangen, dem ich reiche Anregungen verdanke, von einem Kollegium zu verwalten, in dem die Staatsgewalt nur mit einem Drittel der Mitglieder vertreten ist. Ein zweites Drittel bilden die Vertreter der Arbeiter des Industriezweigs, das letzte Drittel die Vertreter seiner organisierten Abnehmer.

Die Interessen der Arbeiter und der Konsumenten stehen hier in einem gewissen Gegensatz: jene streben nach hohen Löhnen und kurzer Arbeitszeit, diese nach niederen Preisen. Überwinden lässt sich dieser Gegensatz nur durch den Fortschritt zu einer höheren Produktivität der Arbeit. Daran sind beide Teile gleichmäßig interessiert, nur dadurch können sie vorwärts kommen. Sonst können sie sich bloß gegenseitig lahmlegen. Das gemeinsame Interesse der Arbeiter und Konsumenten wird den Stachel zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit ersetzen, den unter kapitalistischen Verhältnissen das Profitstreben des Unternehmers bildet.

Innerhalb des einzelnen verstaatlichten Betriebes kann dann die Produktion in ähnlicher Weise geregelt werden wie in den Privatbetrieben nach der oben schon erwähnten Methode. Nur dass der Leiter nicht ein Privatbesitzer oder dessen Stellvertreter ist, sondern ein vom leitenden Industriekollegium eingesetzter Beamter. Tantiemen und Gewinnbeteiligung mögen dann dazu dienen, das Interesse der Verwaltung und der Arbeiter an möglichst sorgsamer und eifriger Arbeit wachzuhalten.

Die Besitzer der verstaatlichten Betriebe sollten entschädigt werden. Dabei wäre zu berücksichtigen einmal der Wert der Produktionsmittel, Baulichkeiten, Maschinen, Rohstoffe, die sie umfassen; dann ihre augenblickliche Rentabilität, nach Durchführung der allgemeinen Sozialreformen.
 

IV. Die Landwirtschaft

Auf diese Weise ist ein Produktionszweig nach dem andern zu sozialisieren und sind die verschiedenen Produktionszweige immer mehr in systematischen Zusammenhang miteinander zu bringen.

Nicht ganz so wie in der Industrie kann man in der Landwirtschaft verfahren. Es wäre nicht zweckmäßig, das bäuerliche Grundeigentum zu enteignen. Es genügt einstweilen, dass der Staat sich bei jeder Besitzveränderung von Grund und Boden das Vorkaufsrecht wahrt, um nach und nach allen Grundbesitz in seine Hände zu bekommen.

Die Wälder könnten, wie schon gesagt, ohne weiteres in staatlichen Betrieb übernommen werden. Auch die Übernahme der Latifundien und ihre Bewirtschaftung nach den oben für die Industrie aufgestellten Regeln würde keine großen Schwierigkeiten verursachen.

Ebensowenig die Syndizierung der übrigen ländlichen Großbetriebe. Von den Erfahrungen auf den Latifundien müssten dann Tempo und Art der weiteren Sozialisierung der landwirtschaftlichen Großbetriebe abhängen.

Die Zerschlagung der Großbetriebe in Zwergbetriebe wäre ein Rückschritt und würde gar nichts nützen, da kein Drang aus der Stadt ins Land besteht, sondern umgekehrt die Landwirtschaft im Kleinbetrieb wie im Großbetrieb an Menschen Mangel leidet.

Ersetzung der Menschenkraft durch die Maschine, nicht Rückkehr zu primitiven Arbeitsmethoden, ist für die Landwirtschaft dringend erforderlich. Dazu ist notwendig, dass der Staat den Dorfgemeinden landwirtschaftliche Maschinen in ausreichendem Masse zur Verfügung stellt und ihre kommunale Anwendung fördert.

Nicht minder unerlässlich aber ist es, die Kulturverhältnisse auf dem flachen Lande zu heben, um den Unterschied zwischen Stadt und Land und damit die Anziehungskraft der Stadt und die Verödung des flachen Landes zu mindern. Verbesserung der Schulen und der Einkommensverhältnisse der Schullehrer, Vermehrung der Ärzte, Verbesserung der Kommunikationsmittel, sowie Bau ausreichender selbständiger Wohnungen für die Landarbeiter – das sind Reformen, die sofort in Angriff zu nehmen sind.
 

V. Kommunalisierung

Die Verstaatlichung der Produktionszweige ist das wichtigste Mittel der Sozialisierung, jedoch nicht das einzige.

Sozialismus heißt demokratische Organisierung des ökonomischen Lebens.

Dies wird vorbereitet durch den Großbetrieb und die Organisation der Produzenten. In gleicher Richtung wirkt aber auch, obgleich nicht so machtvoll, die Organisation der Konsumenten. Erfadt jene immer mehr die Produktion der Produktionsmittel, so diese die Produktion vieler Konsummittel.

Als Organ der Sozialisierung der letzteren Art vermag die Konsumgenossenschaft dort zu wirken, wo sie große Massen Konsumenten umfasst. Noch bedeutsamer aber wird in dieser Beziehung die Stadtgemeinde werden, wenn sie den Charakter einer Konsumentenorganisation annimmt. Als solche kann sie entweder für sich allein oder in Verbindung mit den Konsumgenossenschaften die Brotfabrikation sozialisieren, ebenso die Apotheken, sowie ferner die Versorgung der Stadt mit Milch, mit Gemüsen usw. Sie kann einer der Faktoren der Sozialisierung der Landwirtschaft werden.

Daneben hat die Gemeinde (und ähnlich der Landkreis) die Aufgabe, für die Sozialisierung zu wirken durch die Besitznahme lokaler Monopole, z. B. Straßenbahnen.

Endlich fällt es der Gemeinde zu, die Herstellung der Wohnungen zu sozialisieren, gesunde und billige Wohnungen für die Massen herzustellen und zu verwalten. Es wird von lokalen Verhältnissen, namentlich der Reife und Organisation der Arbeiter, abhängen, auf welchem Wege sie dabei die besten Resultate erzielt, ob sie sich privater Bauunternehmer bedienen muss, denen sie ihre Bedingungen, namentlich in bezug auf die Arbeiterverhältnisse, auferlegt, ob sie in eigener Regie, baut, oder ob sie den Versuch macht, ihre Bauten nach ihren Plänen und unter ihrer Leitung durch die Organisationen der Bauarbeiter herstellen zu lassen.

Wenn die Gemeinde die städtischen Monopole an sich zieht, den Massen gesunde und billige Wohnungen schafft und billiges Brot, wenn sie ausreichende Schulen baut und den Kindern des Volkes in der Schule nicht bloß Belehrung, sondern auch Nahrung bietet, wenn sie endlich den Volksmassen Stätten der Versammlung, der Erholung, der Weiterbildung schafft, wird sie tatkräftig mitwirken an dem Prozess der Sozialisierung.
 

VI. Die Steuerpolitik

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die Enteignung der sozialisierten Betriebe zu geschehen hatte auf dem Wege der Ablösung, nicht der Konfiskation.

Dafür sprechen nicht nur Gründe der Gerechtigkeit, da die Konfiskation nur einige der Kapitalisten, nicht die Masse träfe, und nicht bloß Kapitalisten, sondern auch kleinere Leute. Es sprechen dafür auch ökonomische Gründe, weil die Konfiskation die produzierenden Kapitalisten in höchstem Grade beunruhigen und stören würde in einem Zeitpunkt, in dem der Produktionsprozess äußerster Schonung bedarf.

Die Entschädigung erfolgte am besten durch Ausgabe von Staatsschuldverschreibungen zu einem mäßigen Zinsfuß.

Ähnliche Gründe, wie für die Entschädigung, sprechen gegen die einfache Annullierung der Kriegsanleihen.Neben den Gründen der Gerechtigkeit ist hier zu beachten, dass, bevor die Sozialisierung vollständig vollzogen ist, der kapitalistische Betrieb in weitem Ausmaß fortbesteht; weiter, dass uns noch kapitalistische Staaten umgeben, deren Lebensmittel und Rohstoffe wir brauchen, die zunächst nur auf dem Wege der Anleihe zu erlangen sind. Die Unversehrtheit des Kredits bildet daher eine wichtige Vorbedingung unseres ökonomischen Lebens.

Die Verzinsung der Kriegsanleihen und der Ablösungszahlungen wird große Geldsummen erheischen, die durch Steuern auf die Besitzenden aufzubringen sind. Das ist steuerrtechnisch eine schwierige Frage, nicht aber ökonomisch, denn es bedeutet nicht die Aufbringung neuer Werte, sondern nur einen Platzwechsel schon bestehender.

Wenn etwa für diese Zinsen in jedem Vierteljahr 5 Milliarden von den Besitzenden aufzubringen sind, so werden sie von diesen z. B. im September bezahlt und im Oktober vom Staat zurückgezahlt, wenn auch nicht an die gleichen Personen. Weder der Staat noch die Kapitalistenklasse wird dadurch reicher oder ärmer.

Anders steht es mit den Zinsen, die für Kriegsschäden oder für neue Anleihen an das Ausland zu zahlen sind. Sie gehen hinaus, ohne zurückzukommen. Sie bedeuten eine Verminderung des Einkommens der Kapitalistenklasse, wenn diese sie aufzubringen hat, und eine Verarmung des Staates. Diese Schulden zu tilgen, wird dringend notwendig werden, was wieder neue Steuerlasten bedingt.

Dazu kommen, neben den normalen Verwaltungsausgaben des Staates, noch die Kosten der Unterstützungen für Kriegsbeschädigte und Erwerblose. Dieser Vermehrung der Ausgaben können wohl auch einige Verminderungen gegenübergestellt werden. Vor allem die Ausgaben für die Wehrmacht müssen auf ein Minimum reduziert werden, sowohl durch Aufhebung des stehenden Heeres wie durch Einstellung aller neuen Rüstungen. Das ist nicht nur eine politische Forderung der Demokratie, sondern auch eine ökonomische Forderung einer vor dem Bankerott stehenden Volkswirtschaft.

Trotz aller Ersparnisse, die so gemacht werden können, bleiben ungeheure Erfordernisse, die durch die Einnahmen des Reiches zu decken sind.

Es geht nicht an, sich durch Fabrizierung von Papiergeld zu helfen. Dadurch werden bloß die Warenpreise weiter in die Höhe getrieben und wird die Unsicherheit des Geldwesens aufs unerträglichste gesteigert.

Als Reichseinnahmen kommen in erster Linie direkte progressive Steuern auf den Besitz und das Einkommen der wohlhabenden Klassen in Betracht. Das Erbrecht kann in weitgehendem Masse eingeschränkt werden. Nur darf man nicht vergessen, dass diese Steuern, wenn sie einen nennenswerten Betrag liefern sollen, einen erheblichen Besitz und bedeutende Einkommen voraussetzen, deren erste Vorbedingung wieder ein geregelter Gang der Produktion ist.

Die Grundlage jeder gesunden Finanzpolitik ist eine blühende Produktion, die große Überschüsse an Produkten liefert. Nur aus diesen Überschüssen können ohne Schädigung des Staates und der Bevölkerung die Steuern bezahlt werden. Sie sind von jenen Klassen zu entrichten, die sich der Überschüsse der Produktion zunächst bemächtigen.

Die strengsten Steuergesetze gegen die Reichen liefern keinen Ertrag, wenn die Produktion stockt.

Andererseits ist es zweckwidrig, dass man die Kerze an beiden Seiten anzündet. Der Staat ist nicht in der Lage, den Kapitalisten große Summen durch Besteuerung abzunehmen, wenn die Arbeiter vorher auf dem Wege der Lohnerhöhung den Profit und Zins aufgehoben haben. Darüber müssen sich die Arbeiter klar sein: je mehr es ihnen gelingt, den Mehrwert zu verringern, den das Kapital einsteckt, desto mehr müssen sie selbst von ihren Einnahmen an Steuern zahlen, soll der Staat die Summen bringen, deren er zu seinem Fortbestehen bedarf.

Als nächste Einnahmequelle neben den direkten Steuern kommen für den Staat die Erträgnisse aus seinen Betrieben in Betracht. Doch darf man diese zunächst nicht zu hoch veranschlagen, wenn die Besitzer der sozialisierten Betriebe entschädigt werden. Die Sozialisierung geschieht nicht zu fiskalischen Zwecken, sondern im Interesse der Arbeiter und Konsumenten. Will man diese nicht schädigen, wird man zunächst vermehrte Einnahmen aus jenen Betrieben nicht ziehen können. Allerdings in der Zukunft fallen alle Vermehrungen der Einnahmen durch Wachsen der Grundrente oder Vermehrung des Verkehrs bei wenig wachsenden Kosten, z. B. bei den Eisenbahnen, dem Staat zu. Aber das ist ein Wechsel auf die Zukunft.Sofort können verstaatlichte Betriebe ohne Schädigung der Arbeiter und der Konsumenten nur dann vermehrte Einnahmen bringen, wenn die Verstaatlichung die Betriebskosten verringert, etwa durch Ausschaltung der Kosten des Konkurrenzkampfes der verschiedenen Betriebe, durch Stillegung irrationeller Produktionsstätten oder durch Konzentration der Produktion.

Profitable Verstaatlichungen dieser Art, wie sie z. B. bei der Erzeugung elektrischer Kraft möglich werden, sind außer vom sozialistischen, auch vom fiskalischen Gesichtspunkte aus anzustreben.

Bedenklicher sind Monopole, die nichts sein sollen, als verkappte indirekte Steuern, die nur auf Schröpfung der großen Masse der Konsumenten hinauslaufen. Doch auch unter ihnen gibt es mannigfache Unterschiede. Monopole, durch die Lebensnotwendigkeiten verteuert werden, sind ganz anders zu betrachten, als Monopole auf entbehrliche oder gar schädliche Genussmittel. Die Sozialisierung des Kohlenbergbaus und Kohlenhandels ist dringend notwendig, aber ein fiskalisches Kohlenmonopol zur Erzielung großer Gewinne wäre entschieden zu verwerfen. Da könnte man sich eher mit einem Branntweinmonopol abfinden. Ebensowenig wie fiskalische Monopolisierungen notwendiger Lebensmittel und Rohstoffe kann die deutsche Volkswirtschaft in ihrem jetzigen Zustand Zölle auf solche Artikel ertragen.

Die wichtigsten Staatseinnahmen werden unter allen Umständen die direkten Steuern auf Einkommen, Vermögen, Erbschaften bilden müssen. Aber immer wieder muss eingeschärft werden, dass sie einen höheren Ertrag nur abwerfen können, wenn die Produktion kraftvoll in Gang kommt und reiche Überschüsse liefert. Das ist das A und O, wie der Sozialisierungs-, so der Finanzpolitik.
 

VII. Die auswärtige Politik

Neben der Demokratisierung und Sozialisierung hat eine proletarische Regierung noch eine weitere Aufgabe, an der sie zu arbeiten hat : die Internationalisierung.

Karl Marx verkündet in seiner Inauguraladresse, die das Wirken der Internationale 1864 einleitete, dass einen Tell des Emanzipationskampfes der arbeitenden Klassen der Kampf für eine auswärtige Politik bilde, bei der die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen einzelner regeln, ebensosehr die besten Gesetze des Verkehrs der Nationen sein sollen!

Für eine solche Politik einzutreten, ist jetzt unsere Aufgabe. Offenheit und Wahrheit muss in unserer äußeren wie in unserer inneren Politik herrschen. Weg mit aller Geheimdiplomatie, weg auch mit allen den Mitteln geheimer Agenten und geheimer Presskorruption. Weg mit allen Diplomaten, die mit solchen Mitteln arbeiten, weg auch aber mit allen Diplomaten, die bisher ihre Hauptaufgabe in höfischer Representation sahen. Unsere auswärtige Politik bedarf einer gründlichen Abkehr von den alten Methoden. Nicht darauf darf sie mehr gerichtet rein, das Bündnis der einen Regierungen zu gewinnen und sie mit den anderen zu entzweien, sondern auf den Bund aller Völker, an dem das deutsche Volk als Gleicher unter Gleichen teilnehmen soll, mit voller eigener Selbstbestimmung und freudiger Anerkennung der der anderen.

Unsere Politik muss danach streben, vor allem das Vertrauen der Demokratie und des Proletariats der anderen Länder zu gewinnen. In diesem Vertrauen sowie in der Kraft des ausländischen Proletariats nicht minder als in der Kraft des eigenen muss die Stärke unserer auswärtigen Stellung begründet sein. Freudig wollen wir Schulter an Schulter mit unseren auswärtigen Brüdern für die Demokratisierung und die Sozialisierung in der ganzen Welt eintreten, aber wir lehnen es auch zu diesem Zweck ab, die alten Mittel der geheimen Diplomatie anzuwenden und die Weltrevolution durch geheime Agenten und unterirdische Geldsendungen von Staats wegen als Teil unserer Regierungspolitik fördern zu wollen.

In Freundschaft mit allen Völkern wollen wir unsere internationale Solidarität mit ihnen durch gemeinsame Werke des Friedens und des sozialen Fortschritts bekunden.

Charlottenburg, 12. Januar 1919


Zuletzt aktualisiert am 11.11.2011