Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


6. Serbien


Mit Bosnien und der Herzegowina gewann Österreich ein Gebiet von mehr als 50.000 Quadratkilometern und eine Bevölkerung von 1.300.000 Einwohnern. Allerdings hatte es den hartnäckigen Widerstand der türkischen Staatsmänner auf dem Berliner Kongreß nur dadurch überwinden können, daß es feierlich versprach, die Besetzung solle nur eine provisorische sein, und daß es die Fortdauer der Herrscherrechte des Sultans verbürgte. Aber damit war nur die türkische Empfindlichkeit beschwichtigt, hat allgemeine Mißtrauen nicht beseitigt.

Als Graf Andrassy, der Minister des Äußern, vom Berliner Kongreß nach Wien zurückkehrte, sagte er dem Kaiser Franz Joseph, daß die Tore nach Saloniki nun offenstünden.

So wurde die Okkupation auch außerhalb der Hofburg aufgefaßt. Mit Recht sagte Engels in seinem bereits zitierten Artikel über Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, Österreich habe sich „durch die Besetzung von Bosnien zum Mitschuldigen an der Teilung der Türkei und zum notwendigen Gegner aller serbischen Unabhängigkeits- und Einigungsbestrebungen gemacht“. (S. 200)

Von nun an stand Österreich in fast ständigem Gegensatz zu Serbien, ja in einem Gegensatz, der sich immer mehr verschärfte.

Allerdings – einen Freund besaß es dort, den König Milan, einen Lebemann, der mit dem Einkommen nicht langte, das ihm der kleine serbische Staat aussetzte. So wie ein anderer Lebemann auf dem Throne, Karl II. von England, nichts daran fand, Geldunterstützungen von Ludwig XIV. von Frankreich entgegenzunehmen, trug auch Milan Obrenowitsch, der Serbien von 1868 bis 1889 regierte, kein Bedenken, von Österreich private Vorteile der verschiedensten Art einzuheimsen. Schließlich mußte er von seinem großen Nachbarn gerettet werden. Seine Mißwirtschaft schuf ihm wachsende Opposition, sogar Aufstände im eigenen Lande. Um die Unzufriedenheit abzulenken, trachtete er, dem nationalen Sehnen Befriedigung zu schaffen auf der Linie des geringsten Widerstandes, die von Österreich und Bosnien weg nach Bulgarien führte. Er hoffte, dort einen Zwischenfall für sich ausnutzen zu können. Rumelien, das durch den Berliner Kongreß vom neugeschaffenen Bulgarien getrennt worden war, riß sich 1885 durch einen Staatsstreich von der Türkei los und vereinigte sich mit Bulgarien. Nun verlangte Serbien „Kompensationen“, und als es die nicht erhielt, erklärte es den Krieg. Hier zeigte sich aber Milans Strategie weniger erfolgreich als gegenüber gefälligen Schönen. Die Serben wurden wiederholt geschlagen, und das Vordringen der Bulgaren fand ein Hindernis nur in der Politik Österreichs, das ihnen Halt gebot und es durchsetzte, daß Serbien ohne Verlust davonkam.

In der ganzen Affäre hatte Milans Ansehen nicht gewonnen. Sein Regime fand immer mehr Widerstand, wurde immer gewalttätiger, bis er sich schließlich dazu verstand, seine Krone gegen eine Pension abzutreten (1889), die er auf dem feinen Lebensgewohnheiten so sehr entsprechenden Boden von Paris verzehrte. Drei Jahre später verzichtete er um den billigen Preis von drei Millionen Franken sogar auf seine serbische Staatsangehörigkeit. Die Regierungslast überließ er seinem dreizehnjährigen Sohn Alexander I., mischte sich aber dabei noch immer in die Regierung, erzog den Sohn zu Treubruch, Staatsstreich und Tollheit, bis er 1901 starb. Alexanber, der durch eine so feine Schule gegangen war und seinem Vater nachgeriet, machte sich bald ebenso verhaßt und verächtlich wie dieser. Es dauerte nicht lange, so wurde er durch eine Offiziersrevolte aus dem Wege geräumt (1903). Das Parlament, die Skupschtina, wählte einstimmig Peter Karageorgewitsch zum König, einen Enkel des Kara Georg, der 1804 die Fahne der Empörung gegen die Türken erhoben hatte.

Nun begann ein ruhigeres Verfassungsleben in Serbien. Aber um so schwieriger wurde die auswärtige Politik, denn das Verhältnis zu Österreich sich inzwischen immer mehr zugespitzt.

Das nationale Interesse, das durch die Okkupation Bosniens verletzt worden war, hatte keineswegs das ganze serbische Volk ergriffen sondern nur seine Oberschicht, bestehend aus den Intellektuellen, zu denen man auch das Offizierskorps zählen kann. In ihr spielte der nationale Gedanke eine große Rolle, teils aus wirklich empfundenem nationalen Sehnen, teils aus bloßem Streben nach Erweiterung des Machtbereichs. Das bäuerliche Volksmasse war noch zu rückständig, um andere als Kirchturmpolitik zu treiben. Aber auch sie konnte nicht außerhalb des Bereichs des kapitalistischen Verkehrslebens bleiben.

Der serbische Staat, seine Bureaukraüe, sein Heer brauchen Geld, das der Bauer durch Geldsteuern aufzubringen hatte. Der Bauer selbst wurde mit Erzeugnisen der Industrie bekannt, sie wurden ihm Bedürfnis für Betrieb oder Haushalt. Auch zu ihrer Erwerbung mußte er Geld erwerben. Das erlangte er nur durch Verkauf seiner Produkte. Der landwirtschaftliche Export wurde eine Lebensfrage für Staat und Bauer in Serbien. Bei seiner geographischen Lage, abgeschnitten vom Meere, hatte es jedoch nur einen Weg nach Europa: den über Ungarn. Ungarn war nun ökonomisch in einer ähnlichen Lage wie Serbien, wenn auch schon etwas mehr entwickelt. Auch Ungarn ist auf die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte angewiesen, und seine Kunden sind dieselben, die Serbien suchte. So wurde dieses zum Konkurrenten und damit zum Erbfeind der Agrarier Ungarns. Das ganze Übergewicht der Großmacht gegenüber dem Kleinstaat boten sie auf, um die Handelsverträge seit 1881 wie die Praxis ihrer Handhabung so zu gestatten, daß die serbische Ausfuhr aufs engste eingeschnürt wurde. Schließlich wurde die Ausfuhr lebenden Viehes aus Serbien völlig untersagt, die Ausfuhr geschlachteten Viehes nur in beschränktem Umfang gestattet. Im Handelsvertrag von 1908 wurde die Zahö der geschlachtezen Rinder und Schweine, die Serbien ausführen durfte, auf 35.000 Rinder und 70.000 Schweine beschränkt, Auch das war den ungarischen Agrariern zu viel. Der Vertrag wurde annulliert und in einem neuen von 1911 wurden die Ziffern der gestatteten Ausfuhr reduziert auf 15.000 Rinder und 50.000 Schweine.

In dem gleichen Jahre führte Serbien Vieh im Werte von 5 Millionen Mark aus, Ungarn im Werte von 240 Millionen.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019