Karl Kautsky

Freiheit der Meinungsäußerung und Parteidisziplin

(1916)


Aufruf, veröffentlicht am 19. Juni 1915.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1917, Bd. 2, Frankfurt/M. 1978, S. 904–8.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Wir sind in einem früheren Artikel über „persönliche Überzeugung und Parteidisziplin“ zu dem Schluß gelangt, daß, welche Formen immer das Verhältnis beider annehmen mag, die vollste Freiheit der Meinungsäußerung innerhalb der Partei allein imstande ist, einer Minderheit in einem Parteiorganismus jene begeisterte Hingabe an ihn zu wahren, deren er bedarf, um seine volle Kraft zu entfalten.

Natürlich kann die Meinungsfreiheit in einer Partei nicht die Freiheit bedeuten, ihr anzugehören, welche Meinungen immer man hegen und vertreten mag. Das hieße ja jede geschlossene Partei unmöglich machen. Eine Partei muß stets bestimmte Grenzen ziehen. Wie weit oder eng sie diese zieht, hängt einzig von ihrem Gutdünken, das heißt von Erwägungen der Zweckmäßigkeit ab. Jedoch innerhalb der Grenzen, die sie einmal gezogen hat, muß jede Meinung das Recht haben, sich völlig frei zu äußern.

Man ist manchmal so weit gegangen, Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen in der Partei nicht nur für unvermeidlich, sondern für unentbehrlich zu halten. Ohne sie würde die Partei verknöchern. Diese Befürchtung brauchen wir nicht zu hegen. Vor geistiger Erstarrung schützt uns schon der stete Kampf gegen unsere Gegner.

Aber die Partei ist auch nicht ein Sportplatz, auf den man sich begibt, um geistige Gewandtheit und Schlagfertigkeit zu üben, sondern eine Organisation, um Macht zu praktischen Zwecken zu gewinnen. Innere Kämpfe bedingen aber stets einen Aufwand an Kraft und Zeit, der dem Kampf gegen die Parteigegner entzogen wird. Insofern können also Diskussionen und Zwistigkeiten in einer Partei zum Übel für sie werden, und es ist wohl begreiflich, daß sie das Mißbehagen manches Genossen erregen. Jedoch ein größeres Übel wäre die Unterdrückung der Diskussionen. Es ist schlimm für eine Partei, wenn sich große Gegensätze in ihrer Mitte auftun. Aber sind sie einmal da, dann bietet ihre freie Ausfechtung das einzige Mittel, das Übel zu lindern. Man fügt sich schließlich der Mehrheit, wenn man die Möglichkeit gehabt hat, vor ihr seine Gründe ausführlich zu entwickeln, und wenn sie nicht das Streben verbietet, aus der Minderheit doch noch eine Mehrheit zu machen. Dagegen würde die Parteizugehörigkeit als ein unerträgliches Joch empfunden, wenn sie es verböte, für das Höchste und Heiligste, das jeder kennt, seine eigene Überzeugung, Propaganda zu machen. Und in strittigen Fragen hat jeder Parteigenosse nicht nur das Recht, seine Meinung frei zu äußern, sondern auch die Pflicht, alle anderen Meinungen zu hören und zu überlegen, ehe er seine Entscheidung trifft. Es liegt im Interesse der Partei, daß ihre Beschlüsse erst nach eingehendem Anhören aller Seiten gefaßt werden. Die volle Freiheit der Meinungsäußerung ist also nicht bloß ein Sicherheitsventil, durch das verhindert wird, daß die so leicht eintretende Spannung zwischen Mehrheit und Minderheit eine für das Funktionieren oder gar den Bestand der Partei bedrohliche Höhe erreicht. Sie ist ein unerläßliches Hilfsmittel zur Gewinnung wohlerwogener und möglichst einwandfreier Entscheidungen.

Trotzdem besteht mitunter für eine Majorität eine starke Versuchung, eine unbequeme Minderheit dadurch zum Schweigen zu bringen, daß man ihr vorwirft, sie gefährde durch die Entwicklung ihres Standpunktes die Einheit der Partei. Aber sollte diese wirklich gefährdet sein, dann könnte es nur daher rühren, daß die tatsächlichen Verhältnisse tiefgehende, unüberwindliche Gegensätze innerhalb der Partei schaffen, nie aber dadurch, daß diese offen ausgesprochen werden. Die offene Aussprache kann höchstens die Gefahr ans Tageslicht bringen und veranlassen, daß versucht wird, die Ursachen der Gegensätze aus dem Weg zu räumen oder unwirksam zu machen, die sonst zu unüberwindlicher Stärke anwüchsen.

Allerdings kann sich die vollkommene Freiheit nur auf den sachlichen Inhalt der Meinungsäußerungen beziehen. Es ist freilich stets mißlich, Vorschriften über den Ton zu machen. Dieser ist eine Frage des Taktes, der sich nicht in bestimmten Formeln fixieren läßt. Auch darf man bei der Beurteilung der Polemiken anderer nicht zu zimperlich sein: nicht selten erweisen sich gerade die Empfindsamsten als die Gröbsten, wenn sie einmal selbst eine unbequeme Kritik zu beantworten haben. Immerhin wird eine Parteipolemik in der Regel um so fruchtbarer wirken, je unpersönlicher sie geführt wird. Doch ist das oft leichter gesagt als getan.

In einem Punkt kann man aber eine bestimmte Vorschrift aufstellen: bei Parteipolemiken soll man sich nur an die Parteigenossen wenden. Meinungsverschiedenheiten zwischen Genossen der gleichen Partei sollen nicht vor Mitgliedern anderer Parteien ausgetragen werden. Also zum Beispiel nicht in der bürgerlichen Presse.

Zu den Stellen, an denen die Partei nur geschlossen auftreten sollte und die nicht der Erörterung von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei dienen sollten, wurden bisher auch die Vertretungskörperschaften von Reich, Staat, Gemeinde gerechnet. Es galt hier der Grundsatz, daß die Fraktion einheitlich stimmte und das Aussprechen verschiedener Meinungen vor der Öffentlichkeit nicht gestattet sei. Wenigstens nicht in politischen Fragen. Bei Impfzwang und dergleichen konnte man eine Ausnahme machen.

Allerdings, ob ein ausdrücklicher Parteitagsbeschluß darüber vorliegt, scheint meines Wissens nicht ganz klar zu sein. Das Schrödersche Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage erwähnt den Gegenstand nur an einer Stelle. Es heißt dort:

Der Kongreß zu Wyden 1880 hatte sich mit einem Antrag zu befassen, wonach die Fraktion im Reichstag verpflichtet sein sollte, bei allen Abstimmungen einheitlich geschlossen abzustimmen. Der Antrag wurde mit der Motivierung abgelehnt, daß das im Antrag Verlangte ja selbstverständlich sei. (S. 388, 389)

Man soll nie einen Antrag deshalb ablehnen, weil er selbstverständlich ist. Das gilt in erhöhtem Maße vom Wydener Antrag, weil er gleichzeitig verschiedenes forderte. Es heißt im Protokoll:

Abgelehnt wurde der Antrag: Die sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag haben die Pflicht, jederzeit in energischer Weise prinzipiell aufzutreten und sich nicht an untergeordneten Fragen zu beteiligen. Die Abgeordneten sind gemäß dem Beschluß des Gothaer Kongresses 1877 verpflichtet, bei allen Abstimmungen einheitlich geschlossen zu stimmen.

Die Ablehnung wird dadurch motiviert, daß das im Antrag Verlangte ja selbstverständlich sei. (Protokoll, S. 46)

Worauf bezieht sich nun die Selbstverständlichkeit? Auf die Pflicht, energisch und prinzipiell aufzutreten, oder auf die einheitliche Abstimmung? Und dann wieder, wenn diese selbstverständlich war, warum hatte der Gothaer Kongreß es für notwendig befunden, sie zu beschließen? Endlich, hatte er sie beschlossen, warum der Versuch, den Beschluß zu erneuern? Da er nicht aufgehoben war, mußte er noch ohne weiteres gelten.

Wir werden nicht viel klüger, wenn wir das Parteitagsprotokoll von 1877 hernehmen. Unter den Anträgen figuriert dort ein Antrag der Bremer Sozialisten:

„Die sozialdemokratischen Abgeordneten sollen im Reichstag einheitlich stimmen.“ Die Verhandlung über die Abstimmung der Abgeordneten nahm folgenden Verlauf. Sie wurde veranlaßt durch den Delegierten Frick, der Bremen vertrat.

Frick interpelliert Fritzsche wegen der sich entgegenstehenden Abstimmungen der sozialistischen Abgeordneten bei der Zollfrage. Der Redner hätte es angesichts der gegenwärtigen schlimmen wirtschaftlichen Lage passend gefunden, wenn alle sozialistischen Abgeordneten für die Regierungsvorlage gestimmt hätten.

Blos führt aus, daß nur er und Demmler gegen die Regierungsvorlage gestimmt hätten ...

Neisser macht darauf aufmerksam, daß durch Annahme des Antrags 3 der Vorlage, bezüglich einheitlicher Abstimmung unserer Abgeordneten im Reichstag, diese Frage ihre Erledigung in dem Sinn finden könne, daß in Fragen, in welchen das Parteiprogramm keine Richtschnur gäbe, die von unseren Abgeordneten zu bildende Fraktion mit Stimmenmehrheit zu entscheiden habe, wie in zweifelhaften Fällen abgestimmt werden solle.

Geib ... wünscht zwar zu allen Abstimmungen eine vorherige Verständigung unter den sozialistischen Reichstagsabgeordneten, rechtfertigt aber unter Hinweis auf die angeführten Beschlüsse die Abstimmung von Blos und Demmler ... Redner beantragt Übergang zur Tagesordnung.

Kayser meint, daß es keinen günstigen Eindruck mache, in einer wirtschaftlichen Frage unsere Abgeordneten in dreierlei Formen abstimmen zu sehen; er tadelt die Abstimmung von Bios und Demmler gegen Wiedereinführung der Eisenzelle ...

Nach verschiedenen persönlichen Bemerkungen geht der Kongreß über diese Angelegenheit zur Tagesordnung über, unter besonderer Berücksichtigung des Antrags Hasselmann-Geib, daß unsere Abgeordneten durch spezielle Amendements eine geschlossene Abstimmung seitens unserer Abgeordneten ermöglichen sollten, wenn über die im Reichstag vorliegenden Anträge keine Einigung erzielt werden könne.“ (Protokoll, S. 33, 34.)

Man sieht, die einheitliche Abstimmung der Abgeordneten war damals nichts weniger als eine „Selbstverständlichkeit“ und die Entscheidung des Kongresses von 1877 keineswegs ganz klar.

Über das Schicksal des Bremer Antrags enthält das Protokoll nichts. Einiges darüber bringt der Kongreßbericht des Vorwärts (1. Juni 1877), der das Protokoll etwas ergänzt. Es heißt dort:

Hierauf folgt eine Interpellation Fricks betreffs der Abstimmung unserer Abgeordneten in der Eisenschutzzollfrage, und Frohme schlägt vor, bei wichtigen Fragen sollen die Abgeordneten das Gutachten der Wähler einholen. Es wird konstatiert, daß die Abgeordneten dies bis jetzt prinzipiell, soweit es immer möglich war, getan haben.

Ein Antrag Bremens, daß die sozialistischen Abgeordneten im Reichstag einheitlich stimmen sollen, wird vom Vorsitzenden mit zur Debatte gestellt ...

Kayser will die Abgeordneten nicht immer gezwungen wissen, geschlossen zu stimmen, ist aber von der Abstimmung Demmlers und Blos’ nicht befriedigt, da dieselbe den Freihändlern zugute kam.

Hasselmann konstatiert, daß in vorletzter Reichstagssession die sozialistischen Abgeordneten geschlossen für Schutz der Eisenindustrie gestimmt hätten. Der Eindruck der diesmaligen Abstimmung war deshalb ein sehr peinlicher. Man hätte sozialistischerseits weitergehende Separatanträge stellen müssen.

Neisser erwähnt zum Bremer Antrag, daß die Bildung einer sozialistischen Fraktion unerläßlich sei, deren Beschlüssen sich jeder Abgeordnete zu unterwerfen habe ...

Hasselmann beantragt motivierte Tagesordnung unter Festhaltung der von ihm zuvor erwähnten Gesichtspunkte.

Nach einer Reihe von persönlichen Bemerkungen erklärt Fritzsche, daß dem Kongreß anheimgestellt bleibe, ob er wünsche, daß die Sozialisten im Reichstag mit den bürgerlichen Demokraten zu einer Fraktion zusammentreten, um die zur Antragstellung erforderlichen 15 Unterschriften zu erlangen ...

Der Antrag Bremen erledigt sich mit Annahme der motivierten Tagesordnung von Hasselmann.

Der Wortlaut des Hasselmannschen Antrags wird leider auch in diesem Bericht nicht gegeben.

Die Ursache der gespaltenen Abstimmung lag in der Unklarheit, die über die Zollpolitik in unseren Reihen herrschte. Die Eisenzölle waren am 1. Januar 1877 völlig gefallen. Die Regierung suchte diese Maßregel ein wenig dadurch zu mildern, daß sie gegenüber den Ausfuhrvergütungen des Auslandes eine Ausgleichungsabgabe auf Eisen verlangte. Diese Forderung wurde am 27. April abgelehnt. Es wurde namentlich abgestimmt, Blos und Demmler stimmten dagegen. Bebel und Liebknecht, Most, Fritzsche, Auer, Rittinghausen enthielten sich der Abstimmung, Hasenclever, Motteier, Kapell, Bracke fehlten.

Der Gothaer Beschluß brachte zunächst keine Besserung. Unmittelbar nachdem in Deutschland der Freihandel seinen Höhepunkt erreicht hatte, fiel Bismarck um und forderte nicht nur industrielle, sondern auch agrarische Zölle.

Man sollte meinen, daß da die Stellung der Fraktion unzweideutig gegeben war. Aber bei den Verhandlungen über den neuen Zolltarif, der dem Reichstag im April 1879 vorgelegt wurde, zeigte sich s, daß wenigstens ein Abgeordneter, Max Kayser, sich von seinen Genossen trennte [1], was er nicht nur in der Abstimmung, sondern auch durch eine Rede bekundete, in der er für verschiedene industrielle Zölle eintrat, was um so auffallender war, als der Redner der Fraktionsmehrheit nicht zum Wort kam. In Nr. 23 der Laterne vom 8. Juni 1879, herausgegeben von Karl Hirsch, berichtet darüber ein „Reichstagsabgeordneter (Liebknecht?), welcher, obwohl er anders als Kayser gestimmt hat und gewiß auch anders handeln würde, dennoch großmütig seinen Kollegen in Schutz nimmt“, in folgender Weise:

Bei der Generaldebatte über die Zollfrage, wo Vahlteich im Namen der Partei reden sollte, ließ man unsere Fraktion nicht zu Wort kommen, und ebensowenig bei den Getreidezöllen. Der einzige Sozialdemokrat, der bisher zu den Zollfragen gesprochen hat, Kayser, kam nur in der Spezialdebatte zum Wort, und hier hatte er keine Gelegenheit, den Standpunkt der Partei zu entwickeln. ... Es ist aber ungerecht, Kayser deshalb, weil er in ein paar Stücken mit den Schutzzöllnern gestimmt hat, zu einem Schutzzöllner oder gar zum bezahlten Reptil zu stempeln. ... Übrigens ist Kayser unter den sozialdemokratischen Abgeordneten der einzige, welcher für die Regierungsvorlage gestimmt hat. Kein einziges Mitglied der Fraktion teilt den Standpunkt Kaysers in der Zollfrage, aber keinem einzigen von ihnen ist es in den Sinn gekommen, den in der Agitation so wohlbewährten Genossen darum in den Bann zu tun.

Am 5. Juni veröffentlichten Schlüter und Kegel in der Dresdener Presse eine Erklärung, in der sie dagegen protestierten, daß die Laterne Kayser wegen seiner Abstimmung angriff: „weil die Gefahr vorhanden ist, daß durch solche Auslassungen Verwirrung in unseren Reihen angerichtet und die Einigkeit der Genossen gefährdet wird“. Und sie wendeten sich dagegen, daß „Parteiorgane im Ausland ... durch überflüssige Renommisterei oder Schulmeisterei die Parteidisziplin untergraben“.

Also nicht bei Kayser, sondern bei seinen Kritikern sah man die Gefährdung der Einigkeit der Genossen und der Parteidisziplin.

Das war sicher eine sehr wohlwollende Beurteilung der Haltung Kaysers durch die Fraktion und die Parteigenossen. Mit keinem Wort deuteten sie darauf hin, als wäre die Fraktion in ihren Rechten verletzt worden oder als hätte Kayser einen Parteitagsbeschluß übertreten.

Wenn dann dem nächsten Parteitag, dem Wydener, ein Antrag zuging, die Abgeordneten sollten stets prinzipiell vorgehen und einheitlich stimmen, konnte als selbstverständlich doch höchstens die erste, nicht die zweite Forderung bezeichnet werden. Der Fall Kayser bewies deutlich, daß die einheitliche Abstimmung keineswegs allgemein als selbstverständlich galt.

Indes wie unklar sich auch damals die Kongresse über die Einheitlichkeit der Abstimmungen und der Reden unserer Abgeordneten äußern mochten, diese Einheitlichkeit ist seitdem ein festgewurzeltes Gewohnheitsrecht geworden, das keiner besonderen Bestätigung mehr bedarf, da es seine Kraft in sich selbst trägt, in dem Bedürfnis wurzelt, den Gegnern, wo wir mit ihnen zu tun bekommen, in geschlossener Front entgegenzutreten.

Das besagt keineswegs, daß die Fraktionsbeschlüsse den einzelnen Abgeordneten auch gegenüber den Parteigenossen binden und ihn verpflichten, diese Beschlüsse vor ihnen zu vertreten. Selbst an den Beschlüssen unserer höchsten Instanz, der Parteitage, durfte man stets Kritik üben. Wie sollte da die Fraktion über der Kritik der Genossen stehen! Oder sollte die Fraktion nur von den anderen Genossen kritisiert werden dürfen, nicht auch von den Abgeordneten? Da wären diese ja minderen Rechtes in der Partei. An der Kritik umstrittener Fraktionsbeschlüsse haben sich denn auch die Mitglieder der jeweiligen Minorität der Fraktion stets lebhaft beteiligt. Nicht die Freiheit der Meinungsäußerung war für sie beschränkt, sondern nur die Stelle, an der sie ihr Ausdruck gaben. Der Reichstag galt nicht als der richtige Ort, eine von der Mehrheit abweichende Meinung zu entwickeln und zu bekunden. Doch so weit ging das Recht der Fraktion nicht, eines ihrer Mitglieder zu zwingen, gegen seine Überzeugung zu sprechen oder zu stimmen. Die Stimmenthaltung im Plenum war das Recht der überstimmten Minorität.

Daneben bestand das Herkommen in der Fraktion, für die Verhandlungen im Plenum bei einer wichtigen Vorlage einen Redner vom linken und einen vom rechten Flügel zu bestimmen, so daß auch bei einheitlicher Abstimmung eine gewisse Verschiedenheit der Argumente und Klangfarben in den Äußerungen der Fraktion gewahrt wurde, die Minderheit keineswegs völlig mundtot war.

Mehr durfte sie allerdings nicht für sich beanspruchen, und es wäre sehr unzweckmäßig gewesen, ihr mehr zu gewähren, solange sie die Möglichkeit hatte, ihren Standpunkt an anderer Stelle, direkt vor den Parteigenossen zur Geltung zu bringen.

Wie in so mancher anderen Beziehung hat auch hier der Krieg die Bedingungen unserer Tätigkeit gänzlich umgewälzt. Er hat in unserer Partei tiefgehende Verschiedenheiten der Überzeugungen geschaffen, gleichzeitig aber die Möglichkeit genommen, sie in voller Freiheit zum Austrag zu bringen. Oder vielmehr, die heutige Fraktionsmehrheit ist infolge von Ausnahmeverhältnissen in der angenehmen Lage, ihren Standpunkt und ihre Auffassung und Kritik der Minderheit aufs ausgiebigste vor der Öffentlichkeit darzulegen. Die Minderheit dagegen sieht sich an Händen und Füßen gebunden. Sie ist mehr eingeengt, als es die ganze Partei unter dem Sozialistengesetz war. Denn damals konnte man durch auswärtige Organe in größter Freiheit zu den Genossen reden. (2)

Nur eine Stelle gibt es augenblicklich, in der man öffentlich frei von der Leber weg reden kann, wenn es gelingt, zum Wort zu kommen, den Reichstag. Aber seine Tribüne ist der Minderheit verschlossen durch die Anrufung der Fraktionsdisziplin. Da bekommt diese eine Wirkung, wie sie nicht beabsichtigt und in normalen Zeiten auch nicht zu verzeichnen war. Aus einem Verbot für die Minderheit, ihre abweichende Meinung vor einem zum Teil gegnerischen Publikum auszusprechen, wird sie jetzt zum Verbot für die Minderheit, ihren Standpunkt vor der Öffentlichkeit überhaupt zu entwickeln. Durch die Fraktionsdisziplin, die der Minderheit verbietet, im Reichstag zu reden, wird diese nun verhindert, überhaupt zu reden. Die Freiheit der Meinungsäußerung wird ihr dadurch auch von Partei wegen völlig unterbunden.

Diesen Mißstand hat die Partei nicht gewollt und kann kein verständiges Mitglied der Mehrheit aufrechthalten wollen. Diese hat nicht weniger als die Minderheit alle Ursache, auf seine Abstellung hinzuwirken. Denn er kann nicht lange fortdauern, ohne die Partei in ihrem Funktionieren, ja in ihrem Zusammenhang aufs schwerste zu gefährden. Die Tätigkeit unserer Partei hat zur unumgänglichen Voraussetzung die Gleichberechtigung aller Mitglieder in ihren Meinungsäußerungen. Ihre Trennung in einen Teil, dem jegliche Möglichkeit freiester Meinungsäußerung gegeben, und einen anderen, dem jede derartige Möglichkeit abgeschnitten ist, muß auf die Dauer zu unerträglichen Zuständen führen. Die Parteigenossen haben insgesamt das Recht, von der Minderheit selbst und nicht in der Darstellung der Mehrheit authentisch und ohne Einschränkung zu erfahren, was sie will und warum sie es will.

Dieser Zustand hat bereits mehrere Male zur Durchbrechung der bisherigen Friedenspraxis durch Mitglieder der Minderheit geführt. Liebknecht hat gegen die Kriegskredite gestimmt, dann auch Rühle. Die anderen Mitglieder der Minderheit konnten sich dazu noch nicht entschließen. Immerhin hat ihr größter Teil sich doch verpflichtet gefühlt, sich der Abstimmung zu enthalten, was einen demonstrativeren Charakter annahm, als es unter normalen Verhältnissen der Fall gewesen wäre.

Nicht leicht hat sich die Minderheit dazu entschlossen. Denn auch ihr ist die Einheitlichkeit der Partei ein kostbares Gut. Nicht einmal Karl Liebknecht stimmte am 4. August gegen die Kredite. Haase verlas die Erklärung der Fraktion, obwohl er sie mißbilligte. Voraussetzung war, daß die Minderheit das Recht bekomme, nachher in der Presse und in Versammlungen ihren Standpunkt frei vor den Parteigenossen zu entwickeln. Diese Voraussetzung ist nicht eingetroffen, der Krieg dehnt sich immer länger aus, die öffentliche Erörterung der Fragen, die er aufgerollt, stößt auf immer größere Schwierigkeiten, immer länger wird der Zeitraum, in dem daher nur die Anschauungen der jetzigen Fraktionsmehrheit frei vor den Genossen entwickelt werden. Die Gegensätze der Auffassungen haben dagegen inzwischen eine Tiefe und eine Schärfe erlangt, die am 4. August 1914 noch niemand für möglich gehalten hätte.

Diese Gegensätze zum Ausdruck zu bringen, wurde daher schließlich unvermeidlich. Und nicht minder unvermeidlich, daß sie dort zum Ausdruck kamen, wo heute allein noch das politische Leben die Möglichkeit freier Entfaltung hat, wo aber auch die folgenschwersten Entscheidungen fallen, im Reichstag.

Kein Zweifel, das war ein ungewöhnliches und auffallendes Vorgehen. Die Minderheit hat dabei auch selbst gezaudert und sich bisher noch nicht entschlossen, die Tribüne des Reichstags zu benutzen, um ihren Standpunkt frei zu verkünden und zu begründen. Sollte sie jedoch dazu übergehen, so würde das in der Notlage des Kriegszustandes eine ausreichende Rechtfertigung finden.

Wir sehen denn auch bei der Mehrheit der Fraktion und der Parteigenossen keineswegs jene Entschiedenheit der Abwehr des anscheinenden Disziplinbruchs, die in Friedenszeiten unzweifelhaft sich prompt eingestellt hätte. Offenbar weil man sich mehr oder minder dessen bewußt ist, daß die Voraussetzungen zu solchem Einschreiten andere geworden sind.

Schon rein formalistisch fehlt der Mehrheit jede Voraussetzung zum Einschreiten. Ein Parteitagsbeschluß, auf den die Mehrheit der Fraktion sich berufen könnte, ist bisher nicht ermittelt worden. Der Beschluß von 1877, auf den man hinwies, ist äußerst schleierhaft. Aber selbst wenn noch ein Parteitagsbeschluß ausgegraben werden sollte, der die Minderheit der Fraktion verpflichtete, unter allen Umständen mit der Mehrheit zu stimmen, so würde er bloß die Sachlage komplizieren. Denn die Mehrheit der Fraktion hat selbst bei der Budgetfrage erklärt, daß die Parteitagsbeschlüsse bloß für die Zeit des Friedens bestimmt seien, nicht für die unvorhergesehenen und abnormen Fälle eines Krieges. Ist dies richtig, so muß das Ausnahmerecht für die Minderheit ebenso gelten wie für die Mehrheit. Gilt das Ausnahmerecht nicht, dann hat die Mehrheit bei ihren Abstimmungen Parteitagsbeschlüsse und damit die Parteidisziplin verletzt. Die Fraktion hat nicht das Recht, von ihren Angehörigen zu fordern, daß sie Parteitagsbeschlüsse mißachten.

Aber wichtiger als diese formalistische ist die sachliche Seite der Frage. Daß ein getrenntes Vorgehen von Minderheit und Mehrheit ein Übel ist, kann nicht geleugnet werden. Es fragt sich bloß, ob es nicht das kleinere Übel ist, ob nicht der Zustand, dem es abhilft, ein größeres Übel darstellt.

Was die Einheit der Partei gefährdet, ist nicht das Aussprechen, sondern das Bestehen des Gegensatzes. Gewiß, sein Aussprechen im Reichstag, an so ungewöhnlicher und zentraler Stelle, wirkt intensiver als sein Aussprechen etwa in der Presse oder in Versammlungen; dies aber nur deshalb, weil es eben bezeugt, wie hoch die innere Spannung gediehen sein muß, wenn sie so weit geht, sich an dieser Stelle Luft zu machen.

Wo die Partei vor eine überraschende, unvorhergesehene Situation gestellt wird, die plötzlich die schärfsten Gegensätze hervorruft, da mag deren sofortiges offenes Aussprechen mitunter gefährlich sein. Wenn die Gegensätze nicht auf sorgfältiger Überlegung, nicht auf vollkommener Kenntnis der Tatsachen beruhen, sondern mehr gefühlsmäßiger Art sind, da ist die Möglichkeit vorhanden, daß sie später sich mildern, wenn bessere Bedingungen der Überlegung und Informierung bestehen. Ein vorzeitiges Aussprechen der Gegensätze würde sie festlegen und ihre spätere Überwindung erschweren.

Aber anders liegt die Sache dort, wo ein Gegensatz schon seit Jahr und Tag besteht, wo genügend Zeit war, die Sachlage, auf die er sich bezieht, zu prüfen und ihre Konsequenzen leichter erkennbar werden. Wenn da ein Gegensatz, statt sich zu mildern, sich vielmehr im Innern der Partei zusehends verschärft, ohne daß die Öffentlichkeit über den Inhalt des Gegensatzes genau unterrichtet wird, dann wird es höchste Zeit, offen auszusprechen und zu begründen, was ist. Das bietet noch am ehesten die Aussicht, daß der Verschärfung des Zwiespalts Einhalt getan, er vielmehr vermindert wird. Namentlich gilt das dort, wo die offene Aussprache daran scheiterte, daß nur die eine Seite in der Lage war, sich frei zu äußern.

Das Bewußtsein, Kritik zu finden, wirkt stets der Maßlosigkeit entgegen. Wer vor einem kritischen Publikum spricht, wird sich vor Übertreibungen hüten, die er nicht verantworten kann. Sie gedeihen am besten vor einem unkritischen Publikum oder vor einem Publikum, das nur einseitig unterrichtet ist. Ein solches bildet den fruchtbarsten Nährboden für Maßlosigkeiten nicht nur der Sprache, sondern auch des Denkens. Bestehen innerhalb einer Partei zwei Richtungen, von denen die eine vor der Öffentlichkeit mundtot ist, so fördert das die Erstarkung der extremen Elemente der anderen Richtung. In dieser Lage befindet sich zur Zeit unsere Partei. Der Mehrheit fehlt das Hemmnis des freien Wortes der Minderheit vor der großen Öffentlichkeit. Diese erfährt kaum, daß es eine solche Minderheit gibt, sie weiß nicht genau, welches ihr Standpunkt ist und welches seine Begründung. Dieser Zustand der Hemmungslosigkeit fördert in der Mehrheit das Aufkommen und Überwuchern von Bestrebungen, die früher die große Masse der Parteigenossen entschieden zurückwies oder verlachte. Anschauungen, die vor dem Krieg zum Ausschluß aus der Partei führten, weil sie unvereinbar seien mit ihren Zielen, werden jetzt offen vorgetragen, ohne Widerspruch zu finden oder finden zu können.

Den Übertreibungen von rechts folgen leicht die von links, um so leichter, als dieselben Verhältnisse, die die Minderheit verhindern, sich frei zu äußern, auch jede sachliche Kritik an ihr erschweren.

So erstarken immer mehr die auseinanderstrebenden Elemente der Partei.

Hier liegt die große Gefahr für die Einheit der Partei und nicht in der offenen Aussprache der Minderheit. Diese bildet vielmehr das einzige Mittel, der auseinanderstrebenden Elemente Herr zu werden.


Anmerkungen des Verfassers

1. Die übrige Fraktion zeigte sich auch nicht sehr einheitlich. Für den Roheisenzoll von 1 Mark stimmte Kayser. Dagegen stimmten Fritzsche, Bebel, Liebknecht, Wiemer. Es fehlten Reinders, Hasselmann, Vahlteich, Bracke.

2. Die Bremer Bürgerzeitung vom 27. September berichtet:

„Einer größeren Anzahl Genossinnen und Genossen in Essen, Duisburg, Remscheid, Düsseldorf und einigen anderen Orten im Bereich des 7. Armeekorpsbezirks wurde dieser Tage von der Ortspolizeibehörde im Auftrag des Generalkommandos eröffnet, daß es ihnen verboten ist, während der Dauer des Krieges in öffentlichen Versammlungen oder geschlossenen Sitzungen als Referenten oder sonstwie rednerisch aufzutreten. Weiter wird ihnen jede Verbreitung von Druckschriften – ganz gleich, auf welchem Wege der Vervielfältigung sie hergestellt sind – untersagt. Das Redeverbot bezieht sich nicht nur auf politische Versammlungen und Zusammenkünfte, sondern auf Versammlungen jeder Art. Eine Zuwiderhandlung gegen eines dieser Verbote hat sofortige Schutzhaft für die ganze Dauer des Krieges zur Folge. Man hielt es sodann noch für notwendig, den Genossen ausdrücklich zu erklären, daß sich diese Maßnahmen ‚nicht gegen die sozialdemokratische Partei‘, sondern ‚gegen die Unterzeichner der Eingabe vom 9. Juni an Parteivorstand und Fraktion‘, gegen die ‚sogenannte Liebknechtgruppe‘ richte. Das Verbot wird zurückgezogen, wenn der damit Bedachte dem Generalkommando oder der Polizei schriftlich erklärt, er ziehe seine Unterschrift ‚mit Bedauern‘ zurück.“


Zuletzt aktualisiert am 9.1.2012