Karl Kautsky

Vorrede
[zu Atlanticus: Produktion und Konsum im Sozialstaat]

(1898)


Vorrede zu Atlanticus (Karl Ballod): Produktion und Konsum im Sozialstaat, Stuttgart, Dietz, 1898, S. V–XXIV.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Vorliegende Arbeit wurde der Redaktion der Neuen Zeit zur Veröffentlichung eingesandt. Ihr Umfang erwies sich jedoch als viel zu groß dazu, daher empfahl der Schreiber dieser Zeilen dem Verleger der Neuen Zeit, die Abhandlung als selbständige Broschüre herauszugeben.

Der Unterzeichnete trägt also eine gewisse Verantwortung für ihr Erscheinen, und zwar um so mehr, als der Verfasser der Schrift aus naheliegenden Gründen unter einem Pseudonym vor das Publikum tritt, dank der famosen Freiheit, die die Wissenschaft im Lande der Dichter und Denker genießt.

Mancher wird sich vielleicht darüber verwundern, wie wir dazu kamen, uns für die Herausgabe dieser Schrift zu interessieren, die keineswegs von unserem Standpunkt aus geschrieben ist. Der Verfasser steht Anton Menger näher als Marx, und er wendet sich in seiner Arbeit zu wiederholten Malen sowohl gegen einzelne Marxisten, wie auch gegen unsere ganze Richtung.

Aber bei allen Verschiedenheiten und Gegensätzen ist er doch Sozialist und seine Schrift hatte keine Aussicht, in einem bürgerlichen Verlag angenommen zu werden. Wir hätten es aber sehr bedauert, wenn sie gar nicht hätte erscheinen können, da sie eine Lücke in der bisherigen sozialistischen Literatur ausfüllt oder zum mindesten ihre Ausfüllung anbahnt.

Allerdings beschäftigt sie sich ausschließlich mit dem „Zukunftsstaat“, mit dem „Endziel“ der sozialistischen Bewegung, also mit einer Frage, die uns angeblich höchst gleichgiltig geworden ist, wie triumphierend alle die Leute verkündigen, die den Zusammenbruch des Marxismus nicht erwarten können und daher aus vereinzelten und recht sehr von rechts wie von links missverstandenen Äußerungen eine „Krisis“ im Marxismus deduzieren.

Wenn diese Zusammenbruchs- und Krisenpropheten sich auf den Satz von Bernstein berufen, er habe „für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus’ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse; dieses Ziel, was immer es sei, sei ihm gar nichts, die Bewegung alles“, so hat Bernstein diesen Satz selbst schon richtig gestellt. Dass er nicht so zu verstehen war, wie er auf den ersten Blick aussieht, musste auch ohne diese Erklärung schon die Erwägung klar machen, dass der Satz in einer Artikelreihe stand, die sich sehr eingehend gerade mit den Zielen der sozialistischen Bewegung beschäftigt. Und wäre der anscheinende Sinn der richtige gewesen, dann hätte Bernstein nicht bloß als Marxist, sondern überhaupt als Theoretiker, ja als Kulturmensch abgedankt. Keine Frage nimmt so sehr das allgemeine Interesse der modernen Kulturmenschheit gefangen, wie die nach dem Ziele, dem die gewaltig anschwellende proletarische Bewegung zustrebt. Die verschiedensten Meinungen herrschen in den verschiedenen Lagern über dies Ziel, aber Interesselosigkeit darüber nirgends; es beschäftigt ebenso sehr die Gegner des Sozialismus wie dessen Anhänger. Es ist das Ziel, was die einen von den andern scheidet, und nicht das größere oder geringere Interesse für das Ziel. Die Bewegung des Proletariats lässt sich nicht mehr aushalten, das ist jedem Denkenden offenbar geworden. Nur Narren und gedankenlose Gewaltslümmel können sich einbilden, das Proletariat auf die Dauer niederzwingen zu können. Wer die Zeichen der Zeit mit Verständnis beobachtet, der ist über diesen Glauben längst hinaus. Für den steht es fest, dass die proletarische Bewegung das ihr durch die ökonomische Entwicklung gesteckte Ziel erreichen wird. Welches ist dies aber? Für die Einen, die bürgerlichen Sozialpolitiker, ist es der soziale Friede, die Versöhnung des Kapitals mit der Arbeit, die nach ihrer Ansicht sich einstellen muss, wenn die letztere als gleichberechtigter und ebenbürtiger Faktor dem ersteren gegenübersteht. Für die andern, die proletarischen Sozialisten, ist der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit unüberbrückbar. Der Klassenkampf zwischen beiden wird und muss enden mit der Niederwerfung des Kapitals, mit der Eroberung der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse, dass heißt aber, mit der Bildung einer neuen Produktionsweise.

Das ist der fundamentale Widerspruch, der das Lager der bürgerlichen Sozialpolitiker von dem der proletarischen Sozialdemokratie trennt, er ist es, der hüben wie drüben bei weitem das größte Interesse der Theoretiker auf sich vereinigt. In den Fragen der praktischen Bewegung gehen die Wege beider heute oft parallel – beide streben eine Hebung der Arbeiterschaft an; ihre Mittel sind vielfach dieselben, meist nur die Energie in der Anwendung derselben verschieden. Was sie trennt, sind die Erwartungen, die sie an diese Mittel knüpfen. Dieselben Maßregeln, die nach den einen die Proletarier aus geschworenen Feinden zu Stützen der bestehenden Ordnung machen sollen, sind in den Augen der anderen Mittel, den Kampf gegen diese Ordnung mit verstärkter Wucht zu führen. Was sich aber der Ausführung dieser nächsten praktischen Maßregeln in den Weg stellt, das ist nur noch die sinnlose Brutalität der Machthaber in Politik und Ökonomie, nicht mehr widerstrebende Theorien. So wichtige Detailfragen auch die Entwicklung des Gewerkschaftswesens und des Arbeiterschutzes mit sich bringen mag, die entscheidenden theoretischen Schlachten auf diesen Gebieten sind geschlagen; jeder weitere Fortschritt darin ist nur noch eine Frage der Macht. Dies „nur“ soll natürlich nicht Geringschätzung bedeuten. Sind auch diese Fragen der Sozialpolitik nur noch Detail- und Machtfragen, so sind sie gerade deswegen praktisch die wichtigsten, die die proletarische Bewegung am meisten beschäftigen. Aber sie sind nicht die für den Theoretiker interessantesten. Aufs heißeste theoretisch umstritten ist dagegen das Ziel der proletarischen Bewegung, das heißt, die Frage nach der Richtung der ökonomischen und politischen Entwicklung und nach ihren Bedürfnissen. Auf diesem Gebiete wogen noch die heftigsten theoretischen Kämpfe. Was würden da unsere Gegner gewinnen, wenn es einem Marxisten einmal wirklich einfiele, zu erklären, dieses Ziel sei ihm gleichgiltig geworden? Würde damit das Geringste zugunsten ihrer Auffassung bewiesen?

Zuerst mögen die Herrn Sozialpolitiker uns einen ernsthaft zu nehmenden Marxisten zeigen, der sich zu ihrem Ziel bekehrt hat, der angefangen hat, an den sozialen Frieden zu glauben, dann mögen sie von Krisen im Marxismus reden. Das was sie Krisen nennen, hat es im Marxismus seit jeher gegeben und wird es immer geben, weil er eben kein totes Dogma ist, sondern eine lebendige Lehre, die aus dem Leben schöpft und mit dem wechselnden Leben sich stets erneuert. Dass es dabei ohne Meinungsverschiedenheiten nicht abgeht, und dass diese um so eher und öfter eintreten, je größer der Kreis der marxistischen Theoretiker, das ist natürlich. Aber weit entfernt, in seinen Grundsätzen dadurch erschüttert zu werden, wird der Marxismus durch den Fortschritt der Wirklichkeit immer mehr befestigt und bestätigt. Vom sozialen Frieden sind wir ferner als je, jeder Fortschritt der Organisation der Arbeiterklasse wird mit einem Fortschritt der Organisation der Kapitalisten beantwortet, immer mehr werden die Kämpfe zwischen Arbeitern und Unternehmern zu Kämpfen, die die gesamte Gesellschaft erschüttern, zu Bürgerkriegen, an denen alle Klassen und Parteien im Staate teilnehmen. Und wie die Entwicklung des Klassenkampfes geht auch die des ökonomischen Getriebes in der von Marx vorausgesehenen Richtung vor sich, und wir haben nicht den mindesten Grund, das Ziel, das er im Verein mit Engels erkannt, zu verschieben.

Freilich braucht die größte Klarheit und Einmütigkeit über das Ziel, dem man zustrebt, nicht zu verhindern, dass über den gangbarsten Weg, der dahin führt, und über seine voraussichtliche Länge große Meinungsunterschiede auftauchen, die unter Umständen recht erhebliche praktische Folgen nach sich ziehen können. Aber darüber mich weiter auszulassen, ist hier nicht der richtige Ort. Hier handelt es sich nur darum, darauf hinzuweisen, dass das sozialistische Endziel keineswegs an Bedeutung für die Sozialdemokratie verloren hat.

Indessen wird man die Frage aufwerfen, ob die detaillierte Zukunftsmalerei vorliegender Schrift geeignet ist, die Erkenntnis dieses Endziels zu fördern. Der Verfasser weist selbst darauf hin, dass die Sozialdemokratie bisher stets die Ausmalung des Zukunftsstaats verpönt habe. Das ist jedoch nur bedingt richtig. Allerdings betrachten wir die sozialistische Gesellschaft der Zukunft wie jede bisherige Gesellschaftsform als einen in steter Entwicklung und Umbildung begriffenen Organismus; wir können wohl bis. zu einem gewissen Grade die Richtung dieser Entwicklung erkennen, nicht aber die einzelnen Formen, die sie annehmen wird; das Einzige, was wir mit Sicherheit darüber sagen können, ist, dass sie anders aussehen werden, als wir sie uns vorstellen können. Denn der heutige Maler des Zukunftsstaats muss nicht nur eine Reihe von Faktoren außer Acht lassen, die erst später auftreten werden, z. B. neue Erfindungen, die wir noch nicht kennen, und die das Bild wesentlich verändern werden, es ist auch unmöglich, alle heute schon bestehenden Faktoren der sozialistischen Gesellschaft genau zu erkennen und ihre Entwicklungsmöglichkeit genau abzuschätzen. Die Kunst bleibt immer hinter der Wirklichkeit zurück, selbst dort, wo sie diese nur kopiert, wie denn erst dort, wo sie aus wenigen Ansätzen ihr Bild konstruieren soll.

Die sozialdemokratische Partei hat es daher stets abgelehnt, und musste es ablehnen, sich auf irgend eine Zukunftskonstruktion zu verpflichten, sie als das von ihr angestrebte Ziel zu bezeichnen.

Sie hat damit jedoch das Aufstellen solcher Konstruktionen keineswegs verpönt. Jeder Mensch, der sich weite Ziele gesteckt hat, muss das Bedürfnis empfinden, seine Ideen zu Ende zu denken, seine Ideale auf alle ihre möglichen Konsequenzen hin zu prüfen, im Kopf, wenn man so sagen darf, den Oberbau des kommenden gesellschaftlichen Gebäudes zu konstruieren, dessen Grundlagen in den heutigen ökonomischen Tendenzen bereits zu erkennen sind. Je gründlicher der Einzelne diese Denkoperation vorgenommen, desto gefestigter wird seine Überzeugung sein, desto klarer und zielbewusster seine Tätigkeit.

Das Ergebnis dieser Blicke in die Zukunft wird aber bei Jedem ein anderes sein, ein anderes nach Temperament, Einsicht, Neigungen und nach dem Milieu; es wird ein anderes sein für den Künstler und ein anderes für den Statistiker; ein anderes für den Philosophen und ein anderes für den naiven Naturburschen; ein anderes für den Jüngling und ein anderes für den gereiften Mann. Das hindert jedoch nicht, dass das Verfolgen der Konsequenzen der eigenen Ideale ein ebenso nützlicher und klärender, wie unvermeidlicher Denkprozess ist, der im heutigen Stadium der sozialistischen Bewegung um so weniger Unheil anrichten kann, je mehr sie von den praktischen Aufgaben des Tages in Anspruch genommen wird, so dass es völlig ausgeschlossen ist, sie könnte über der Zukunft die Gegenwart vergessen.

Wenn in einzelnen lebhafteren, phantasiereicheren und kühneren Naturen die Zukunftskonstruktionen konkretere Formen annehmen, so dass sie zu förmlichen Schilderungen der sozialistischen Gesellschaft werden, so ist auch dagegen nichts einzuwenden. Die Sozialdemokratie verhielt sich seinerzeit gegen Bellamys Rückblick kritisch, aber nicht ablehnend; sie verpönte das Buch durchaus nicht, trug vielmehr selbst zu seiner Verbreitung bei. Und die Kunde von Nirgendwo des William Morris wurde in der Neuen Zeit veröffentlicht.

Nur dort und nur dann wendet sich die Sozialdemokratie gegen die Zukunftsmalereien, wenn sie mehr sein wollen als Schilderungen dessen, wie sein könnte und sein dürfte; wenn sie mit dem Anspruch auftreten, für die sozialistische Bewegung verbindlich zu werden und die Grundlage ihrer praktischen Tätigkeit abzugeben, wie es Hertzka z. B. mit seiner seichten Utopie Freiland beabsichtigte.

Wo das nicht der Fall, hat die Sozialdemokratie um so weniger Ursache, Spekulationen über die sozialistische Zukunft zu verpönen, als solche unter Umständen, wenn mit Sachverständnis und Geschick unternommen, nicht unbedeutenden propagandistischen Wert erlangen können.

Das Rückgrat der Sozialdemokratie wird freilich stets der Klassenkampf des Proletariats sein. Das besagt natürlich nicht, dass sie auf keinerlei Zuzug aus anderen Klassen zu rechnen habe; aber wer aus anderen Klassen zu ihr kommt, wird gerade durch ihre Vertretung proletarischer Interessen zu ihr gezogen; es sind das auf der einen Seite Bevölkerungselemente, die sich dem Proletariat verfallen fühlen oder an seinem Auskommen interessiert sind, auf der anderen Seite Elemente, die aus irgendwelchen idealen Beweggründen die Sache des Proletariats zu der ihren machen. Stets aber sind es bestimmte proletarische Interessen und nicht bestimmte Zukunftskonstruktionen, die für die Kraft und den Einfluss der Sozialdemokratie bestimmend sind.

Aber diese Kraft entspringt nicht bloß aus ihrer Vertretung proletarischer Augenblicksinteressen, sondern ebenso sehr ihren weitgesteckten Zielen, ihren Idealen, die allerdings ebenso wie die Augenblicksziele sehr realen Bedürfnissen und Erwägungen entsprechen. Nichts irriger als die Ansicht, die man in letzter Zeit öfter aussprechen hörte, nur durch ihre Teilnahme an den Klassenkämpfen des Tages sei die Sozialdemokratie groß und stark geworden, ihre Ideale seien eine sehr schöne Dekoration, aber ohne jede praktische Bedeutung. Vielmehr beruht gerade der beste Teil ihrer Kraft darin, dass sie heute die einzige Partei ist, die Ideale hat, große Ziele, die über die gegenwärtige Gesellschaftsordnung hinausweisen. Das beweist schon eine kurze Überlegung.

Es ist unmöglich, den Gegensatz zwischen dem Proletariat und dem Kapital aufzuheben; er muss sich immer mehr verschärfen. Ein politisch siegreiches Proletariat ist aber unvereinbar mit dem Fortgang der kapitalistischen Produktionsweise. Ist der Sieg des ersteren unvermeidlich, dann der Untergang der letzteren gewiss. Ein um die Macht im Staate kämpfendes Proletariat muss daher eine neue Produktionsweise, die auf den kapitalistischen Errungenschaften aufgebaut und den proletarischen Interessen angepasst ist, um so gewisser sich als Ziel seines Kampfes setzen, je tiefer es die Bedingungen seiner Existenz erkannt hat und je mehr es an sich und seine Sache glaubt. Seine sozialistischen Ideale entspringen ebenso sehr seiner Siegeszuversicht, wie diese wieder durch jene angefeuert und gehoben wird. Seine idealen, oder wenn man lieber will, revolutionären Ziele, was in diesem Zusammenhang dasselbe bedeutet, bilden aber auch das kräftigste Band, das alle die verschiedenartigen Arbeiterschichten mit ihren verschiedenartigen Augenblicksinteressen zu einem einzigen kraftvollen Körper vereinigt. Man nehme dem kämpfenden Proletariat seine sozialistischen Ziele und man nimmt ihm seinen Enthusiasmus und seine Geschlossenheit.

Man nimmt der sozialistischen Bewegung damit aber auch den besten Teil ihrer Anziehungskraft in den tiefsten, wie in den höchsten Schichten der Gesellschaft: einerseits mindert man ihre agitatorische Kraft in jenen Schichten des Proletariats, für welche die Aussichten nur gering sind, aus eigener Kraft sich in den Kämpfen des Tages auf eine höhere Stufe zu heben, denen nur die Hoffnung auf einen völligen Umschwung der Dinge jenen gewaltigen Anstoß erteilen kann, der allein im Stande ist, sie ihrer apathischen Verzweiflung zu entreißen; andererseits aber muss eine Arbeiterpartei, die ihre sozialistischen Ideale aufgibt und sich bloß auf Lohnkampf und Arbeiterschutz und ähnliche Aufgaben des Tages beschränkt, gerade für die besten Teile der bürgerlichen „Intelligenz“, die am ehesten zum Proletariat sich gesellen, sehr an werbender Kraft verlieren. Was das Proletariat von der bürgerlichen „Intelligenz“ braucht, was es aus sich selbst nur schwer hervorbringen kann, das sind geschulte Denker, die es intellektuell heben und seinen Bewegungen Zielbewusstsein und Einheitlichkeit geben. Für derartige geistig hochstehende und selbstlose Köpfe der Bourgeoisie wird aber eine proletarische Bewegung um so eher Interesse haben, je idealistischer sie ist, das heißt, je weiter die Ziele sind, die sie sich steckt. Die bedeutendsten unter den großen Utopisten hatten für die Tageskämpfe des Proletariats kein Verständnis; was sie beschäftigte, war die Aufhebung des Proletariats selbst, die Aufhebung der bestehenden Produktionsweise. Das war es, was die besten und tiefsten der bürgerlichen Denker anzog; die großen Kämpfe um kleine, prekäre Errungenschaften stießen sie ab. Es ist das unsterbliche Verdienst von Marx und Engels, diesen Gegensatz überbrückt, die Bedeutung der Tageskämpfe des Proletariats für seine Emanzipation klargestellt und damit dieser eine unwiderstehliche Triebkraft gesichert zu haben, aber auch Engels und Marx, ebenso wie Lassalle, wie fast alle aus der Bourgeoisie entstammenden Elemente unserer Partei, kamen zum Proletariat als Idealisten und Revolutionäre, als Kämpfer gegen die bestehende Gesellschafts- und Staatsordnung, nicht als bloße Verfechter irgendwelcher kleinen arbeiterfreundlichen Maßregeln. Ist es aus theoretischen Gründen nicht angängig, das Ziel hinter die Bewegung zurücktreten zu lassen, so auch nicht aus praktischen Gründen der Propaganda.

Aber allerdings bedingt auch die sozialistische Propaganda ebenso wenig wie die Entwicklung der sozialistischen Theorien die Konstruierung und Ausmalung eines Zukunftsstaats. Um die Ziele des proletarischen Emanzipationskampfes so weit zu erkennen, als es für die praktischen Zwecke unserer Generation erforderlich ist, genügt es, die Gegenwart zu studieren, in ihr die Keime und die Tendenzen zu entdecken, die versprechen, sich zu bestimmenden Faktoren der Zukunft zu entwickeln. Aber die Masse der Menschen wird nicht durch bloße Abstraktionen, sondern nur durch konkrete Anschauungen bestimmt. Daher rührt die propagandistische Kraft der sozialistischen Zukunftsmalereien. Es ist kein Zufall, dass von jenen beiden Erscheinungen der sozialistischen Literatur des letzten Jahrzehnts, die die größte Verbreitung fanden, Bellamys Rückblick und Bebels Frau, die erstere ein Zukunftsroman ist und die zweite sich besonders durch die Fülle und Anschaulichkeit ihrer Ausblicke in die Zukunft auszeichnet.

Und noch ein anderes propagandistisches Motiv fördert den Drang, die Zukunft greifbarer darzustellen. Gleich den Sozialisten haben auch deren Gegner die Neigung, die Zukunft auszumalen und die Konsequenzen zu zeichnen, die nach ihrer Ansicht ein Sieg des Proletariats nach sich ziehen müsste. Der Wunsch, diesen Anti-Utopien zu entgegnen, drängt auch Sozialisten, die gar nicht zu Zukunftsmalereien geneigt sind, sich auf dies Gebiet, wenn auch vielleicht nur zögernd und abwehrend, zu begeben. Zu dieser Art defensiver Zukunftskonstruktionen gehört vorliegende Arbeit.

Zwei Einwände sind es, die hauptsächlich gegen die Verwirklichung der sozialistischen Ideen von unsern Gegnern ins Feld geführt werden: einmal der, dass der Sozialismus gegen die „Menschennatur“ verstoße, und dann der, dass seine Gleichheit die des Elends bedeute.

Nehmen wir an, der erstere Einwand sei richtig, so würde er noch immer sehr wenig gegen die Durchführbarkeit des Sozialismus beweisen. Die entscheidende Frage ist die, ob der Sieg des Proletariats und der Untergang des Kapitalismus unvermeidlich sind – dann ist der Sozialismus eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Oder ist unter den gegebenen Verhältnissen eine dritte Produktionsweise denkbar?

Ist aber der Sozialismus eine gesellschaftliche Notwendigkeit, dann wäre, wenn er in Konflikt mit der Menschennatur käme, diese es, die den Kürzeren ziehen würde und nicht der Sozialismus. Denn die Gesellschaft erweist sich stets stärker, als die „Menschennatur“, das heißt das Individuum. Das tritt nirgends schlagender hervor, als in der heutigen Gesellschaft, die schon längst beim Teufel wäre, wenn ein Konflikt mit der Menschennatur sie unmöglich machte. Hunger und Liebe sind bekanntlich die beiden Faktoren, die das ganze Getriebe der Natur, also auch das der Menschennatur im Gange halten. Sie scheinen übermächtig zu sein. Aber was sehen wir: vollgefüllte Bäckerläden, Fleischerläden, Lebensmittelmagazine und vor ihnen zahlreiche Menschen, die hungern, nein, schlimmer, die ihre Kinder hungern sehen, und die dennoch den Geboten des Hungers Widerstand leisten, die nichts von dem Überflusse nehmen, der vor ihnen liegt, nicht nur zurückgehalten durch den Arm des Gesetzes, sondern weit mehr noch durch den tief eingewurzelten Respekt vor dem Eigentum. Das aus dem gesellschaftlichen Bedürfnis hervorgegangene Gebot der Gesellschaft erweist sich mächtiger als der Hunger.

Und die Liebe? Die Gesellschaft verbietet, wenigstens den Töchtern der Besitzenden, die außereheliche Liebe, die eheliche Liebe wird aber für eine stets wachsende Zahl von Mädchen eine Unmöglichkeit. Millionen von ihnen verzichten unter diesen Umständen auf jede Liebe, werden eher alte Jungfern, als dass sie in außerehelicher Liebe ihr Glück suchten, nicht bloß in Folge äußerlichen Zwanges, sondern vor allem deswegen, weil das Gebot der Gesellschaft für sie höher steht, als das Gebot ihrer „Menschennatur“.

Wäre es also wirklich richtig, dass der Sozialismus gegen verschiedene Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur verstieße, so wäre damit nicht seine Durchführbarkeit bewiesen, sondern nur dargetan, dass auch er nicht den Himmel auf Erden bringen wird, wobei er noch lange keine solche Hölle zu sein brauchte, wie die heutige Gesellschaft eine für die Mehrzahl ihrer Mitglieder ist. Es wäre natürlich höchst überflüssig, sich den Kopf über das Maß des Glückes zu zerbrechen, das in einer sozialistischen Gesellschaft herrschen wird; die rosenfarbenen Schilderungen auf der einen Seite beweisen ebenso wenig wie die pechschwarzen der andern, der Streit darüber ist ein Kampf von Geistern in der Luft.

Aber so wenig wir eine Garantie für irgend ein Maß von Glückseligkeit in der sozialistischen Gesellschaft übernehmen möchten, so haben wir sicher alle Ursache, auch in dieser Beziehung nicht pessimistisch in die Zukunft zu schauen. Von den beiden mächtigsten Naturtrieben wird der Hunger jedenfalls befriedigt werden. Nicht so einfach steht’ s mit der Liebe. Eine sozialistische Gesellschaft wird das erste Gemeinwesen sein, in dem individuelle Geschlechtsliebe und ökonomische Selbständigkeit der Frau ohne Prostitution herrschen. In der Urzeit, wo es keine Prostitution gab, kannte man auch nicht die individuelle Geschlechtsliebe. Daraus können, namentlich für die „Männernatur“, manche harte Konflikte entstehen, die ihr heute erspart bleiben. Immerhin darf man annehmen, dass nicht bloß für die Frauen, sondern auch für die Mehrheit der Männerwelt der Sozialismus die Möglichkeit befriedigenderer Formen des Geschlechtlebens gewährt, als die heutige Produktionsweise.

Neben den Gefühlen des Hungers und der Liebe sind aber die stärksten Triebe in der Menschennatur die sozialen. Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Tier, und die sozialen Instinkte, Ehrgeiz, Pflichtgefühl, Hingebung für andere sind bei ihm so tief gewurzelt, dass selbst Jahrhunderte des erbittertsten Konkurrenzkampfes sie nicht völlig unterdrücken konnten. Diese Seite der Menschennatur muss in einer sozialistischen Gesellschaft reiche Gelegenheit zur Betätigung und Entfaltung finden.

Es ist charakteristisch, dass unsere bedeutendsten Utopisten die menschliche Seele kannten wie nur wenige und für Psychologie und Pädagogik bahnbrechende Beobachtungen gemacht haben. Und ihnen erschien der Sozialismus geradezu als die der Menschennatur entsprechendste, also für sie beglückendste Form der Gesellschaft.

Das ist natürlich utopistisch gedacht. Eine vollkommene Form der Gesellschaft gibt es überhaupt nicht; und die entscheidende Triebkraft der Entwicklung der Gesellschaft ist nicht das Streben, diese der Menschennatur immer entsprechender zu gestalten, sondern der technische Fortschritt. Die Technik ist in letzter Linie entscheidend für die Formen des gesellschaftlichen Zusammenarbeitens und damit der Gesellschaft überhaupt.

Je besser die Organisation der Gesellschaft ihren ökonomischen Bedingungen entspricht, desto unverkürzter wird sie die Summe von Glück spenden, die zu spenden sie überhaupt fähig ist. Es wäre aber töricht, diese Summe für eine gegebene Gesellschaft im Voraus berechnen zu wollen. Der Sozialist kann sich freilich die Gesellschaft, die er anstrebt, nur vorstellen als frei von den Missständen der kapitalistischen Gesellschaft. Welche Missstände sie ihrerseits in ihrem Schoße birgt, davon können wir nicht einmal eine Ahnung haben. Aber welcher Art diese auch sein mögen, das; die sozialistische Gesellschaft wegen ihrer angeblichen Unvereinbarkeit mit der Natur des Menschen das größte sittliche Elend erzeugen müsse, das ist eine Annahme, die den heute bekannten Tatsachen nicht nur nicht entspricht, sondern geradezu in Widerspruch dazu steht. Aber nicht nur moralisches, sondern auch physisches Elend soll die sozialistische Gesellschaft im Gefolge haben. Das ist der zweite Haupttrumpf, den unsere Gegner gegen uns ausspielen. Die Produktivität der Arbeit sei zu gering, als dass sie gestatten würde, mehr als einer winzigen Minorität ein Wohlleben zu verschaffen, die dafür in die Lage versetzt wird, Kunst und Wissenschaft zu fördern. Die Ausgleichung der Klassenunterschiede würde dieser Minorität das Wohlleben rauben, ohne es der Masse zu geben. Kunst und Wissenschaft müssten verschwinden, und das Ende wäre statt eines ökonomischen Fortschritts ein gewaltiger Rückschritt und Not und Elend für Alle.

Um das zu beweisen, werden die Statistiker, die so rosenfarbig zu sehen vermögen, wenn es sich darum handelt, zu beweisen, wie sehr der Wohlstand in der kapitalistischen Gesellschaft verbreitet ist, zu Schwarzsehern, und die Not der Volksmasse erscheint ihnen plötzlich in den krassesten Formen. Wir brauchen diese statistischen Kunststücke hier nicht nachzurechnen, denn welches immer ihre Ergebnisse sein mögen, sie beweisen nichts. Sie gehen ja alle von der Voraussetzung aus, dass in der sozialistischen Gesellschaft nicht mehr produziert werde wie in der kapitalistischen; sie würden also, wenn sie richtig wären, nur beweisen, dass eine Ausgleichung der Klassenunterschiede – beiläufig bemerkt, handelt es sich nur darum, und natürlich nicht um eine Ausgleichung der individuellen Unterschiede, alle Auseinandersetzungen unserer Darwinisten und sonstigen gelehrten Herren über die Unmöglichkeit dieser Art der Ausgleichung sind also nichts als leeres Geschwätz –, dass eine Ausgleichung der Klassenunterschiede innerhalb der heutigen Gesellschaft zur Gleichheit des Elends führen würde.

Aber wir Sozialisten behaupten ja eben die höhere Produktivität der sozialistischen Produktionsweise. Berechnet wurde dieselbe jedoch bisher nicht, sondern es wurden bloß die Faktoren dargelegt, die in der heutigen Gesellschaft die volle Entfaltung der Produktivkräfte hindern und zur Verschwendung der gegebenen Produktivkräfte führen, und dem gegenüber wurden die Vorteile planmäßig geregelter Produktion, der Aufhebung des entweder freiwilligen oder erzwungenen Müßigganges, der Beseitigung parasitischer Existenzen, der allseitigen Durchführung der vollkommensten Technik hervorgehoben. Bereits Thomas More hat einige sehr schöne Bemerkungen darüber gemacht; von da an finden wir ähnliche Ausführungen bei jedem bedeutenderen Sozialisten, auch Marx hat sehr wichtige Hinweise in seinem „Kapital“ darüber veröffentlicht. Aber so große Beweiskraft diese Ausführungen für den Theoretiker haben, das große Publikum wird nur durch konkrete Tatsachen, durch anschauliche Ziffern überzeugt.

Trotzdem ist es leicht begreiflich, warum noch nicht der rechnungsmäßige Nachweis geliefert wurde, dass die heutigen Produktivkräfte bei planmäßiger gesellschaftlicher Anwendung hinreichenden Wohlstand für alle zu erzeugen vermöchten. Ein derartiger Nachweis ist nur zu erbringen aufgrund eines bestimmten, detaillierten Bildes der Zukunftsgesellschaft, eines Bildes, dem nie die Wirklichkeit entsprechen wird, da es niemand vergönnt ist, mit voller Klarheit die Zukunft zu schauen, eines Bildes, das nicht als Vorbild gelten darf, nach dem die Zukunftsgesellschaft einzurichten wäre, sondern nur als Beispiel, an dem ihre Möglichkeit erprobt wird. Es findet sich aber nicht so leicht jemand, der für ein bloßes Beispiel die eingehenden Studien anstellt und die mühsamen Berechnungen vornimmt, die in diesem Falle notwendig sind, soll es irgend eine Beweiskraft haben. Was bisher auf diesem Gebiete geleistet wurde, z. B. von Hertzka, ist ein ebenso liederliches wie lächerliches Abschätzen aufs Geratewohl hin. Die vorliegende Schrift ist unseres Wissens die erste, die ziffernmäßig den Beweis zu erbringen versucht, dass schon mit den heutigen Produktivkräften, bei liberalster Entschädigung der bisherigen Kapitalisten und auch noch ihrer Nachkommen, Wohlstand für alle Mitglieder der Gesellschaft möglich ist, wenn die Gesellschaft die planmäßige Produktion wenigstens aller notwendigen Konsummittel in die Hand nimmt. Dieser Nachweis behält seine Beweiskraft auch dann, wenn man sich die Zukunftsgesellschaft anders vorstellt als der Verfasser, und auch, wenn man der sicheren Überzeugung ist, dass diese Gesellschaft ganz anders aussehen wird, als sie uns heute erscheinen kann. Welche Veränderungen immer eintreten mögen, die das Zukunftsbild hinfällig machen, das Atlanticus entworfen, sie werden sich auf zwei Arten reduzieren lassen: einmal Fortschritte der Technik, welche die Produktivität noch größer machen, als er angenommen, und Fortschritte der Einsicht, die es ermöglichen, die Organisation der Gesellschaft den bestehenden ökonomischen Bedingungen noch zweckmäßiger anzupassen, als in dem Plan von Atlanticus der Fall. Dürfen wir also überzeugt sein, dass sein Zukunftsbild ungenau ist, so dürfen wir ebenso überzeugt sein, dass die Abweichungen der Wirklichkeit davon nicht zur Schwächung, sondern zur Stärkung seiner These führen werden, dass die Möglichkeit des allgemeinen Wohlstandes in der sozialistischen Gesellschaft noch größer sein wird, als hier berechnet.

Wenn wir die vorliegende Schrift aus den eben angeführten Gründen für sehr verdienstlich halten, so ist damit, wie schon angedeutet, nicht gesagt, dass wir jede ihrer Äußerungen unterschreiben. Unsere Anschauungen weichen von denen des Verfassers in gar manchen Punkten ab; aber eine Vorrede zu einem Buch ist nicht der richtige Ort es zu kritisieren.

Nur in einem Punkt wollen wir unseres Bedenken begründen, weil er eine gegenwärtig sehr lebhaft diskutierte Frage behandelt, die Kolonialpolitik. Atlanticus ist der Überzeugung, dass auch eine sozialistische Gesellschaft ohne Kolonialbesitz nicht auskommen wird, und er rechnet daher mit dieser Tatsache. Er geht von dem Grundsatz aus, dass eine sozialistische Gesellschaft im Wesentlichen ein sich selbst genügender Organismus sein muss, der alles, was er braucht, selbst erzeugt. Der moderne Kulturmensch könne aber mit den Erzeugnissen eines einzigen Landes, ja einer einzigen Zone allein seine Bedürfnisse nicht befriedigen. Ein europäisches sozialistisches Gemeinwesen könnte also nur dann seinen Mitgliedern ein kulturgemäßes Dasein gewähren, wenn es tropische Kolonien besäße und deren Bewohner in Zwangsarbeit für seine Bedürfnisse produzieren ließe. Die Sozialdemokratie müsse also der Politik der Erwerbung überseeischer Besitzungen freundlich, nicht feindlich gegenüberstehen.

Diese eine Frage zeigt, wie wenig es bloße unfruchtbare Tüftelei ist, wenn man versucht, die Zukunft möglichst klar zu erfassen. Je besser dies gelingt, je weiter schauend unsere Politik ist, um so zweckmäßiger wird sie auch in der Gegenwart sein, die ja doch nichts ist, als die Vorbereitung für die Zukunft. Die Kolonialfeindschaft der deutschen Sozialdemokratie wäre sehr kurzsichtig, wenn sie auf bloßer Gegnerschaft gegen die heutige Regierung beruhte und wenn die ökonomische Entwicklung Deutschlands in späteren Generationen dadurch in nicht wieder gut zu machender Weise geschädigt würde.

Aber wir denken, dass der Widerstand gegen die Erwerbung überseeischer Besitzungen nicht nur vom Standpunkt der Gegenwart, sondern auch von dem der Zukunft gerechtfertigt ist.

Kein Land bleibt ewig im Stadium der Kolonie, das heißt im Stadium der Abhängigkeit von einem andern, räumlich von ihm getrennten Lande höherer Kultur, von dem es beherrscht und ausgebeutet wird. Die räumliche Trennung und die Verschiedenheit der Interessen machen es unmöglich, dass die Bevölkerung der Kolonie mit der des herrschenden Landes zu einer Nation verschmilzt, wie das so oft bei eroberten benachbarten Landstrichen der Fall. In dem Maße, in dem die Kolonie kulturell sich entwickelt, muss sie immer mehr nach Selbständigkeit, nach Losreißung vom herrschenden Lande trachten.

Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis die europäische Gesellschaft dahin gelangt, die wesentlichsten kapitalistischen Züge zu verlieren und durch sozialistische zu ersetzen. Nirgends kann man mehr irren, als bei der Schätzung des Tempos einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung, und zwar können sich nicht nur Optimisten hierbei irren, sondern auch Pessimisten. Aufs Prophezeien in dieser Beziehung lassen wir uns also weder in dem einen noch in dem andern Sinne ein. Aber gerade, je nüchterner man der kommenden Entwicklung gegenübersteht, je länger man ihre Dauer annimmt, umso mehr muss man annehmen, dass die Tendenz der heutigen europäischen Kolonialbesitzungen nach Selbständigkeit in diesem Zeitraum zur Geltung kommt. Heute ist bereits Japan zu einer europäischen Staaten ebenbürtigen Großmacht geworden. Glaubt man, dass noch fünfzig Jahre lang Ostindien die Herrschaft Englands, China die der Europäer, welche Formen immer sie annehmen mag, dulden wird? Die Intelligenz und die Machtmittel der europäischen Zivilisation verbreiten sich rasch in jenen Gegenden, und es erscheint uns sehr wohl möglich, dass, ehe Europa noch zum Sozialismus gelangt ist, Japan, China, Indien sich vereinigen, um die Monroedoktrin ins Asiatische zu übersetzen und zu erklären: Asien den Asiaten.

Bleibt Afrika. Aber auch dort entwickelt sich rasch eine der europäischen ebenbürtige Kultur. Ägypten im Norden, das Kapland im Süden bilden die Keime zu zwei großen, selbständigen afrikanischen Reichen. Was die Engländer heute in Afrika erobern, erobern sie für diese, nicht für sich. Wer weiß, ob nicht innerhalb des nächsten halben Jahrhunderts ein starkes, selbständiges Ägypten Deutsch-Ostafrika verschluckt, und sollten die Vereinigten Staaten von Südafrika nicht dasselbe mit Deutsch-Südwestafrika tun, so würde es höchstens deshalb unterbleiben, weil es sich herausstellte, dass diese schöne Gegend eine hoffnungslose Sandwüste ist.

Die heutigen Kolonien sind – mit dem Maßstabe der Weltgeschichte, nicht des Einzellebens gemessen – nur ein ephemerer Besitz. Die heutigen Erwerbungen solcher sind keineswegs Erwerbungen für die sozialistische Zukunft, wir brauchen unsere Politik ihnen gegenüber nur vom Standpunkt der proletarischen Interessen der absehbaren Zukunft einzurichten.

Es ist sehr ungewiss, wie viel an Kolonialbesitz das siegreiche Proletariat in dem Erbe vorfinden wird, das es von der kapitalistischen Gesellschaft übernimmt; es tut gut daran, auf diesen Besitz keine seiner Hoffnungen zu bauen.

Aber sollte auch die sozialistische Umgestaltung Europas früher kommen, als die Selbständigkeit der Kolonien, so erscheint es uns doch zweifelhaft, dass das sozialistische Regime, statt den Kolonien die Selbständigkeit zu geben, ein neues Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis dort begründen wollte. Das von Atlanticus vorgeschlagene Kultursystem, das wohl dem holländischen auf Java nachgebildet ist, kann sicher viel humaner gehandhabt werden als etwa das System der kapitalistischen Lohnarbeit heute gehandhabt wird. Aber jede Gesellschaft hat ihre eigene Ethik, die, so tief sie auch in den ökonomischen Verhältnissen wurzelt, sich doch oft stärker erweist, als einzelne ökonomische Interessen. Die ethischen Anschauungen des heutigen Proletariats verwerfen jede Sklaverei, trotzdem diese unter Umständen milder sein mag, als Lohnarbeit im Dienste des Kapitals. Im großen amerikanischen Bürgerkriege gegen die Sklavenstaaten standen die englischen Arbeiter fest auf der Seite der Nordstaaten, trotzdem das Ausbleiben der Baumwollzufuhr sie in die furchtbarste Not versetzte. Wir können uns nicht vorstellen, wie eine sozialistische Bevölkerung sich mit einer Form ausbeuterischer Zwangsarbeit befreunden könnte. Sollte sie in die Angelegenheiten tiefer stehender Rassen eingreifen, so dürfen wir erwarten, dass es eher geschehen wird, um zu hindern, dass sich irgendwelche Formen der Ausbeutung in ihrer Mitte erhalten oder festsetzen, nicht aber um selbst eine solche Form zu begründen.

Nur eine dringende ökonomische Notwendigkeit könnte ein Volk so sehr in Widerspruch zu den Grundlagen seines eigenen Gesellschaftslebens setzen, wie es die Einführung der Zwangsarbeit für Fremde durch ein sozialistisches Gemeinwesen wäre. Eine solche dringende Notwendigkeit liegt aber unseres Wissens nicht vor. Sie wäre nur dann gegeben, wenn die ökonomischen Bedingungen einer sozialistischen Gesellschaft jeden Austausch mit dem Auslande ausschlössen. Das ist jedoch nicht der Fall.

Die Entwicklung des Weltverkehrs hat Kulturbedürfnisse geschaffen, die nur er selbst befriedigen kann. Die Beschränkung des Konsums eines Gemeinwesens auf seine eigene Produktion bedeutete, auch wenn man die etwaigen Kolonien hinzurechnet, einen kulturellen Rückschritt. Wir dürfen sicher sein, dass auch eine sozialistische Gesellschaft sich bestreben wird, die Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse aus aller Welt zusammenzuholen. Der Geschmack ihrer Mitglieder wird Vielleicht auch so fein entwickelt sein, dass sie es vorziehen wird, ihren Tee aus China, ihren Tabak aus Kuba, ihren Kaffee aus Java zu holen, statt diese Produkte in ungenügenden Qualitäten durch Zwangsarbeit in dem Stück Tropenland zu erzeugen, das ihr der Zufall als Kolonie beschert hat. Export und Import werden nicht aufhören, sie werden nur ihren Charakter gründlich verändern. Heute wird zum Verkauf, und zwar zum Verkauf mit Profit, produziert; das macht bei wachsender Akkumulation des Kapitals in industriell hochstehenden Ländern eine stete Ausdehnung des Exports notwendig. Dieser wird zu einer Lebensbedingung für die ganze Gesellschaft. Der Import bildet dagegen keine unumgängliche Notwendigkeit, er ist nur eine Konsequenz, und nicht immer eine erwünschte, des steigenden Exports; er wird möglichst erschwert, denn den inneren Markt möchte die kapitalistische Industrie gerne monopolisieren. Ein sozialistisches Gemeinwesen produziert dagegen nicht für den Verkauf, sondern für den Konsum der eigenen Mitglieder. Der Konsum, und nicht der Profit ist hier die Triebkraft des ganzen ökonomischen Getriebes. Das bedeutet aber dem Welthandel gegenüber, dass für jedes sozialistische Land der Import die Hauptsache wird, und der Export an zweite Stelle tritt. In einem sozialistischen Gemeinwesen wird man nur exportieren, um importieren zu können.

Der Drang nach Geld, nach Profit ist maßlos, damit aber auch der Drang nach Steigerung des Exports. Das Bedürfnis nach Vermehrung der Konsummittel findet in den natürlichen Bedürfnissen seine Grenzen. Der Import, damit aber auch der Export, werden daher in einer sozialistischen Gesellschaft gegenüber der eigenen Produktion für den Selbstgebrauch ein bescheidenes Maß nicht überschreiten.

Der Weltmarkt ist unübersichtlich, der Drang des akkumulierten Kapitals nach Ausdehnung der Produktion wechselt mit dem Maß der Akkumulation und den Aussichten auf Gewinn. Daraus folgen unter kapitalistischer Produktion unvermeidlich wirtschaftliche Krisen, die das gesellschaftliche Leben aufs tiefste erschüttern. Die Bedürfnisse einer gegebenen Gesellschaft wechseln dagegen nur unmerklich von Jahr zu Jahr, sie sind, wenn einmal statistisch erfasst, leicht übersehbare Größen: die Bewegungen von Import und Export werden daher in einer sozialistischen Gesellschaft stetige sein. Die Krisen schwinden aus dem Welthandel, für jedes einzelne Land kommt das Ausland, soweit man es überhaupt noch braucht, nicht mehr, wie bisher, in erster Linie als Markt, sondern als Lieferant in Betracht, die Konkurrenzjagd um die Märkte verschwindet, damit aber auch die wichtigste Ursache der modernen nationalen Gegensätze.

Was sollen da noch Kolonien? Im 17. und 18. Jahrhundert waren sie wertvoll als Lieferanten. Heute betrachtet man sie, wenn auch in sehr übertriebenem Maße, wertvoll als Märkte. Einem sozialistischen Gemeinwesen wären sie als Märkte wie als Lieferanten ungenügend. Die Eröffnung des Weltmarkts ist eine der Großtaten der kapitalistischen Produktionsweise, die vom Sozialismus den neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst, nicht aber rückgängig gemacht werden wird.

Wir erwähnen dies, weil die Kolonialfrage heute im Vordergrunde der praktischen Diskussion steht. Für die Bedeutung der vorliegenden Schrift ist unser Einwand unerheblich, da sie die Zwangsarbeit in den Kolonien nicht ohne Entgelt vor sich gehen lassen will. Nach den Annahmen des Verfassers soll sie vom sozialistischen Deutschland mit Waren im heutigen Werte von 450 Millionen Mark entlohnt werden. Ob man damit Zwangsarbeiter in einer Kolonie entlohnt oder um diesen Betrag die betreffenden Waren sich von dort liefern lässt, wo sie am besten und leichtesten gedeihen und ihre Produktionskosten am geringsten sind, macht für das rechnerische Exempel, das hier zu lösen ist, nichts aus.

Und wie mit diesem Punkte, so steht's mit den andern, in denen wir dem Verfasser nicht folgen können. Unsere Einwendungen treffen nicht den wesentlichen Inhalt des Buches, den rechnerischen Nachweis, den der Verfasser unternommen. Dieser erscheint uns sehr beachtenswert.

Und darum wünschen wir dem Büchlein einen guten Erfolg.

Berlin, Ostern 1898

K. Kautsky


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012