Karl Kautsky

Die Vertheilung des Arbeitsertrages
im sozialistischen Staate

(1881)


Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, II. Jg., Zürich 1881, S. 88–98.
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Während die Utopisten ihre Aufmerksamkeit in hohem Maasse dem Modus der Vertheilung des Volkseinkommens zuwandten und Manche sogar glaubten, durch eine Veränderung des Vertheilungsmodus allein bereits Glück und Zufriedenheit der Menschheit verschaffen zu können, huldigt dagegen der neuere Sozialismus dem Grundsatze, dass nicht die Weise der Vertheilung der Arbeitsprodukte, sondern vielmehr der Modus ihrer Erzeugung das Massgebende im sozialen Leben sei, und dass jene durch diesen bedingt werde. Auch wir halten dies für richtig, glauben jedoch nicht, dass daraus der Schluss zu ziehen sei, den man gewöhnlich zieht, der Modus der Vertheilung des Arbeitsertrages habe uns zunächst nicht zu beschäftigen, der ergebe sich von selbst, sobald nur einmal die Produktion sozialistisch organisirt sei: dies sei unsere Hauptaufgabe. Aber mit demselben Recht könnte man auch behaupten, man brauche sich um die sozialistische Organisirung der Produktion ebensowenig zu kümmern, da dieselbe die naturnothwendige Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise sei. Wir können freilich nicht den Weg vorschreiben, den die ökonomische Entwicklung zu nehmen hat, aber wir sind im Stande, dadurch, dass wir denselben klar erkennen, die Hindernisse zu beseitigen, die auf demselben liegen und die Entwicklung hemmen und schmerzlich machen.

Daraus also, dass es nicht in unserer Macht liegt, den Modus der Vertheilung beliebig festzustellen, folgt durchaus nicht, dass wir über denselben nicht nachdenken sollen. Wenn wir eine Weise der Vertheilung einführen würden, welche mit dem Charakter der sozialistischen Produktionsweise nicht stimmte, so würde diese allerdings sich bald als nicht lebensfähig erweisen und durch die Macht der Umstände beseitigt werden, aber erst nach grossen Opfern an Menschenglück wäre dies möglich.

Aber wenn auch daraus, dass derjenige Vertheilungsmodus, welcher sich als lebensfähig erweist, früher oder später durch die Macht der Umstände uns aufgezwungen werden wird, nicht folgt, dass wir uns mit der Frage überhaupt nicht zu beschäftigen haben, so folgt dagegen daraus, dass man sie nicht mehr vom Standpunkte der Gerechtigkeit aus betrachten darf. Wir dürfen uns nicht mehr fragen: welche Art der Vertheilung ist die gerechteste? sondern: welche ist die naturgemässe Folge der Einführung der sozialistischen Produktionsweise?

Man missverstehe mich nicht. Ich leugne durchaus nicht, dass es ein Gerechtigkeitsgefühl gibt. Ein solches existirt ganz sicher und kann vielleicht ebenso als in unserer Natur begründet erwiesen werden, als die Sympathie und das Mitleid. Das Grerechtigkeitsgefühl verlangt ebenso wie der Hunger nach Befriedigung und ist daher ebenso wie dieser eine mächtige Triebfeder unserer Handlungen. Die Richtung dieses Gefühles aber ist nicht immer dieselbe, sondern je nach den sozialen Verhältnissen eine verschiedene. Einem Römer wäre die Forderung, er solle seine Sklaven freilassen, sehr ungerecht erschienen, einem Mohamedaner erschiene es höchst ungerecht, wollte man ihm seine „überschüssigen“ Frauen wegnehmen, und dem Bourgeois erscheint es als der Gipfel der Ungerechtigkeit, dass er nicht die Millionen seines Vaters erben soll. Das Gerechtigkeitsgefühl ist wesentlich negativer Natur, es zeigt uns an, dass Ungerechtigkeiten, d. h. soziale Verhältnisse bestehen, die den Bedürfnissen der Zeit nicht entsprechen, es zeigt uns an, dass der gesellschaftliche Körper krank ist, so wie Schmerzen anzeigen, dass dem menschlichen Körper etwas fehle. So wie diese kann auch das Gerechtigkeitsgefühl eine mächtige Triebfeder dazu sein, die betreffenden Krankheiten zu heilen, aber eben sowenig wie diese kann es positiv wirken, kann es sagen, durch welche Mittel die Krankheit geheilt werden wird. Soll der Körper gesund werden, so dürfen die Schmerzen nicht fortdauern – Einrichtungen, die uns ungerecht erscheinen, dürfen wir also nicht mit in die neue Gesellschaft hinübernehmen. Das Gerechtigkeitsgefühl kann uns sagen, was wir nicht thun, welchen Vertheilungsmodus wir nicht annehmen dürfen, aber es kann nicht die Entscheidung darüber herbeiführen, welchen wir annehmen sollen.

Statt also die verschiedenen Vertheilungsmodi nach ihrer Gerechtigkeit zu prüfen, wollen wir lieber annehmen, die sozialistische Produktionsweise sei bereits durchgeführt. Alles ist im schönsten Gange, und es erhebt sich nun die Frage: wie sollen wir die gewonnenen Produkte vertheilen.

An Stelle des Arbeitslohnes tritt der Arbeitsertrag, darüber sind Alle einig. Nur muss man diese Phrase cum grano salis verstehen. So geht’s natürlich nicht, dass jeder alles das, was er schafft, erhält, um es selbst zu gebrauchen oder gegen fremde Produkte einzutauschen. Nicht einmal bei Wilden wäre dies möglich, da auch die gemeinschaftlich jagen etc. Wie denn erst bei uns, wo die Kooperation und das Maschinenwesen zu solcher Vollkommenheit entwickelt sind. Nehmen wir einen Maschinenschlosser, der in einer Lokomotivfabrik beschäftigt ist. Welchen Theil einer Lokomotive könnte derselbe als Ertrag seiner Arbeit in Anspruch nehmen, um ihn nach Belieben zu gebrauchen? Buchstäblich ist also die Phrase, dass der Arbeiter den Ertrag seiner Arbeit erhalten soll, nicht aufzufassen, sondern nur insofern, als die Arbeiterklasse den Ertrag ihrer Arbeit erhalten soll, ohne Abzug zu Grünsten schmarotzender Existenzen, wie Kapitalisten, Grundbesitzer, Minister, Generäle etc. Aber nicht ohne jeden Abzug. Vom Volkseinkommen muss zunächst abgezogen werden ein Theil, der zur Erhaltung der Kranken, Invaliden, Greise und Kinder dienen soll. Weiters ein Theil, der nothwendig ist zur Akkumulation von neuem Kapital, ein Prozess, der in einem sozialistischen Gemeinwesen von diesem und nicht von den Individuen zu vollziehen ist. Der Rest bleibt übrig zur Vertheilung unter alle diejenigen, welche zu Gunsten des Gemeinwesens thätig gewesen sind, mag nun ihre Thätigkeit ein sichtbares Produkt zu Tage gefördert haben oder blos eine Dienstleistung gewesen sein. Also nur insoferne, als kein Abzug zu Gunsten des Privatkapitalisten mehr geschieht, ist der Satz richtig, dass der Arbeiter im sozialistischen Staate den Ertrag seiner Arbeit erhalten wird. Der Vertheilungsmodus der Arbeitsprodukte selbst ist dadurch noch nicht festgestellt.

Drei Maassstäbe sind da zu nennen unter den vorgeschlagenen, welches ein näheres Eingehen verdienen. Die Arbeitsprodukte sollen vertheilt werden entweder nach den Bedürfnissen oder zu gleichen Theilen oder endlich nach Maassgabe der Arbeitsleistung.

Der erste Vertheilungsmodus: Jedem nach seinen Bedürfnissen, dem für die Produktion der Satz gegenübersteht: Jeder nach seinen Fähigkeiten, soll nicht mehr als absolut undurchführbar hingestellt werden. In den ost- und südslavischen Ländern, wo der Sozialismus mehr einen föderalistischen Charakter tragen und die Gemeinde die wirthschaftliche Einheit bilden wird, wo ferner die einzelnen Gruppen und Gemeinden entweder durch Bande des Blutes oder der Freundschaft zusammengehalten werden, indem sie in letzterem Falle auf dem freiwilligen Zusammenschluss mit einander sympathisirender Elemente beruhen, dort dürfte das Prinzip: Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen, durchführbar sein. Nun bedenke man aber die total verschiedenen Verhältnisse der westeuropäischen Industriestaaten mit den Arbeiterarmeen, welche in den einzelnen Etablissements beschäftigt sind. Weder Freundschaft noch Verwandtschaft hält dieselben zusammen, sondern nur die gleichartige Beschäftigung. Der Egoismus ist bei ihnen stark entwickelt, die altruistischen Gefühle schwach; die Arbeit ist für sie kein Dienst, den sie ihren Freunden und Geschlechtsgenossen erweisen, sondern eine Geschäftsangelegenheit. So schön daher auch das Prinzip ist: Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen, für das Menschenmaterial und die Produktionsverhältnisse, mit denen der westeuropäische Sozialismus zu rechnen hat, taugt dasselbe nicht. Vielleicht, dass es später einmal in Folge des slavischen Einflusses und des Anwachsens der altruistischen Instinkte, wie es das gemeinsame Zusammenarbeiten mit sich bringt, durchführbar wird, für den Anfang ist es nicht zu gebrauchen.

Wenden wir uns daher den nüchternen, mehr geschäftsmässigen aber dafür auch eher Erfolg versprechenden beiden Vertheilungsmaassstäben zu, dem streng kommunistischen und dem individnalistischen. Der eine will Allen ohne Unterschied die gleiche Menge von Genüssen zuerkennen – sie müssen deshalb noch nicht gleichartig sein –, der andere verlangt, dass derjenige, welcher mehr arbeitet, auch eine grössere Menge Genussmittel von der Gesellschaft erhalten soll.

Wenn man auch hier wieder von der Gerechtigkeit absieht und blos darnach fragt, welchen Einfluss jeder dieser Vertheilungsmodi auf die Produktion haben dürfte, dann muss man sich gestehen, dass der Unterschied zwischen beiden nicht sehr gross ist. Weder der eine noch der andere steht im Widerspruche mit dem Geiste der sozialistischen Produktionsweise, es wird ganz im Belieben der betreffenden Gemeinwesen stehen, den einen oder den anderen einzuführen. Man hat gesagt, die Vertheilung des Arbeitsertrages nach geleisteten Arbeitsstunden sei der Produktion förderlicher, als die nach arbeitenden Individuen, weil der Egoismus, diese stärkste aller Triebfedern der menschlichen Handlungen, dadurch ein Interesse an der Herstellung eines möglichst grossen Produktes erhalte. Der Ehrgeiz und die Rücksicht auf die öffentliche Meinung, meint man weiter, seien bei uns noch nicht mächtig genug, um dem Egoismus die Spitze zu bieten, vorläufig also sei der kommunistische Vertheilungsmodus verwerflich, er würde zu nichts anderem führen, als dass gerade die Besten alle Lasten zu Gunsten der Schlechtesten tragen müssten. Ich fürchte dergleichen nicht. Unter dem heutigen System ist es für den einzelnen Arbeiter im Gegensatze zu den Interessen seiner gesammten Klasse um so vortheilhafter, je mehr und länger er arbeitet, weil sein Lohn sich dadurch momentan vergrössert. Trotzdem und obgleich der Egoismus heute von einer Stärke ist, die nicht mehr übertroffen werden kann, ist es doch den englischen Gewerkvereinen gelungen, den Arbeitern eine Menge Beschränkungen aufzulegen, welche zu grosse Arbeitsleistungen verhindern; Beschränkungen, die nicht blos am Papier stehen, sondern wirklich durchgeführt werden, vermöge eines ausgebildeten Strafsystems und vermöge der Aufsicht, welche alle Arbeiter über jeden ihrer Mitarbeiter ausüben, und der keiner sich entziehen kann. Wenn es aber bereits heute möglich ist, den Spielraum des Egoismus zu Gunsten der Gesammtheit einzuschränken, so wird dies ebenso im sozialen Staate möglich sein, und es macht nichts aus, dass diese Einschränkungen des Egoismus sich dann in einer anderen Richtung, nicht in Verringerung, sondern in Vergrösserung der Arbeitsleistung äussern werden.

Uns persönlich erscheint das kommunistische System der Vertheilung nach Individuen sympathischer als das individualistische der Vertheilung nach Arbeitsstunden, denn letzteres, fürchten wir, dürfte den Egoismus auch in die sozialistischen Gemeinwesen verpflanzen, während ersteres kommunistische Gefühle erwecken muss. Die Produktivität der Arbeit scheint mir. das eine ebenso zu gewährleisten, wie das andere.

Leider ist mit diesem Ergebniss die Schwierigkeit noch nicht behoben. Stellen wir uns vor, die sozialistische Produktion gehe vor sich und eine der beiden letzten Arten der Vertheilung des Arbeitsertrages sei eingeführt. Welche, das ist gleichgiltig für unseren Zweck. Jeder, in welchem Berufe immer er thätig sei, erhalte als Individuum oder für die Arbeitsstunde einen gleichen Antheil am Arbeitsertrage. Was wird geschehen? Die unangenehmen Gewerbe werden plötzlich vereinsamt sein, die Bäder werden stille stehen, die Hochöfen ausgeblasen sein und Niemand mehr für die Bekleidung und Ernährung der Menschen sorgen. Dagegen wird sich Alles den leichten und angenehmen Gewerben hingeben. Um dies zu verhüten, erlässt das Geweinwesen ein Gesetz, dass nur derjenige in einem Gewerbe arbeiten dürfe, der Proben seiner Leistungsfähigkeit abgelegt. Dazu ist es in vollem Maasse berechtigt; allein es erreicht dadurch blos, dass die jetzt lebende Generation ihre gewohnten Beschäftigungen fortsetzt. Dagegen kann es nicht hindern, dass alle Mitglieder der heranwachsenden Generation, denen die Berufswahl freisteht, denen alle Hilfsmittel des Studium’s zu Gebote stehen, und welche frei sind von allen quälenden Nahrungssorgen, den schweren Gewerben fernbleiben und den leichten, namentlich geistigen Arbeiten sich zuwenden. Kann und darf ein sozialistisches Gemeinwesen sie daran hindern? Kann es einem derselben verbieten, sich einem Berufe zu widmen, zu dem es Neigung fühlt? Gewiss nicht; im freien Volksstaate wäre solch’ ein Zwang nicht realisirbar.

Das Gemeinwesen wird darnach trachten, die Berufe überhaupt aus der Welt zu schaffen. Der Dualismus zwischen Stadt und Land, zwischen Hand- und Kopfarbeitern wird beseitigt werden. Die industriellen Unternehmungen werden aufs flache Land verlegt werden, die Städte in Folge dessen verschwinden. Die Arbeit wird so organisirt werden, dass ein anregender Wechsel zwischen der Fabriks- und der ländlichen Arbeit entsteht, und da Alle, auch Frauen und Kinder an derselben Theil nehmen, das Maschinenwesen soweit als nur möglich ausgebildet und jede unwirthschaftliche Verschwendung ausgeschlossen ist, so wird die physische Arbeit so wenig Zeit in Anspruch nehmen, dass jeder Müsse genug haben wird, auch seinen Geist zu entwickeln und einen Schatz von allgemeinem Wissen zu sammeln, was ihn ermöglicht, auch in geistiger Beziehung selbstständig zu arbeiten.

Das Alles ist durchführbar. Man kann einen Minimalarbeitstag, nehmen wir an, von zwei Stunden, für Jeden obligatorisch machen, während dessen man abwechselnd die verschiedenen mechanischen Handgriffe bei den Maschinen zu besorgen hat, die so leicht erlernbar sind, und kurze Zeit geübt eine gesunde Muskelthätigkeit hervorrufen, indess sie, längere Zeit ununterbrochen gethan, Geist und Körper gleichermassen herabstimmen. Man könnte sich auch sehr wohl vorstellen, dass während dieses Minimalarbeitstages so viel produzirt wird, als jeder Mensch für sich nothwendigerweise braucht. Er müsste also nicht eine Entlohnung für denselben erhalten: die Benutzung einer Wohnung und der öffentlichen Bibliotheken, die Theilnahme an den Mahlzeiten, die Entnahme von Kleidungsstücken aus den Magazinen nach Bedarf wären genügende Entlohnung der Minimalarbeit.

Leider ist nicht zu erwarten, dass dieser Minimalarbeitstag alles das leisten werde, was zur Erhaltung des Lebens nothwendig ist. Das Maschinenwesen ist nicht so entwickelt, dass es nicht auch im sozialistischen Staate Beschäftigungen geben würde, die man nicht dilettantisch betreiben, sondern zu seinem Berufe machen müsste, sollte etwas darin geleistet werden. Die geisttödtende ununterbrochene Maschinenarbeit kann im sozialistischen Gemeinwesen so vertheilt werden, dass jeder nur einen unbedeutenden Bruchtheil derselben zugetheilt erhält. Die Berufsthätigkeit ist aber damit nicht ausgeschlossen, sie wird ebenso nothwendig sein, wie heutzutage. Durch den für Alle obligatorischen Minimalarbeitstag ist die Schwierigkeit also nicht gelöst, dass Niemand sich den unangenehmen, aber nothwendigen Berufen widmen werde. Und nicht nur von den körperlichen, schmutzigen oder ermüdenden Thätigkeiten wird man sich abwenden, auch unter den geistigen Thätigkeiten werden manche bevorzugt sein, andere vernachlässigt. Von den Künsten gar nicht zu reden, werden auch in den Wissenschaften sich die meisten lieber dem weiteren Ausbau derselben, als ihrer praktischen Ausübung zuwenden. Als Historiker oder Physiologe selbstständig zu arbeiten, ist ein Genuss; Ausübender Arzt oder Lehrer der Geschichte zu sein, ist dagegen nichts weniger, als ein Vergnügen.

Der Ueberfüllung in den einzelnen Branchen, dem Mangel in anderen abzuhelfen, dafür zu sorgen, dass überall die richtige Anzahl von Arbeitskräften sei, wird sich daher bald als eine der wichtigsten Aufgaben des Sozialstaates herausstellen. Durch Zwang kann er dies nicht bewirken, das ist klar. Er muss zur Erreichung dieses Zieles einen anderen Weg einschlagen.

Anstelle des Zwanges wird man versuchen, die Anziehungskraft der Arbeit zu setzen. Gleiche Anziehungskraft jeder Arbeit wird bewirken, dass jeder Beruf so viele Mitglieder zählt, als die Gesellschaft benöthigt, sie wird ferner bewirken, dass Allen die Arbeit das gleiche Glück gewährt.

Es wird dem Gemeinwesen nicht schwer fallen, durch statistische Erhebungen einerseits den Bedarf festzustellen und andererseits die Zahl der Arbeiter, die sich mit der Befriedigung desselben beschäftigen. Es wird sich da herausstellen, dass die einen Branchen zu viele, die andern zu wenige Arbeiter enthalten. Die Aufgabe wird also darin bestehen, aus den ersteren eine gewisse Zahl Arbeiter auf die letzteren hinzulenken, und zwar gerade diejenigen, denen die betreffende Arbeit keinen so hohen Genuss gewährt, dass sie sie nicht um eines kleinen Vortheiles willen verlassen würden: es werden das auch diejenigen sein, die in der betreffenden Branche am wenigsten leisten. Um das zu erreichen, wird man zunächst darnach streben, den Arbeitsprozess der unbeliebten Gewerbe so angenehm als möglich zu gestalten. Die schönsten und gesündesten Arbeitsräume werden ihnen zur Verfügung gestellt werden, man wird den menschlichen Erfindungsgeist antreiben, neue Maschinen zu erfinden, welche die Arbeit weniger beschwerlich oder abstossend machen, man wird ihr so viel wie möglich Abwechselung zu verleihen trachten.

Aber die Technik hat ihre Grenzen, über welche hinaus sie unter gegebenen Bedingungen nichts mehr leisten kann. Zu der Anziehungskraft während des Arbeitsprozesses muss man daher auch die Anziehungskraft in Folge desselben gesellen. Vielleicht, dass man etwas erreichen wird, wenn man die öffentliche Meinung darauf hinlenkt, in den bei den unangenehmen Arbeiten Beschäftigten Menschen zu sehen, die sich um das Gemeinwesen besonders verdient machen. Der Ehrgeiz, der dadurch erweckt wird, dürfte manchen bewegen, sich einer unangenehmen Arbeit zu widmen. Aber ich glaube kaum, dass das genügen dürfte. Und so wird denn, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind, nichts anderes übrig bleiben, als den bei den unangenehmen Arbeiten betheiligten eine grössere Summe von Genussmitteln zuzuerkennen, als den anderen. „Aber da haben wir ja wieder die Verschiedenheit des Arbeitslohnes, die wir beseitigen wollten!“ rufen entrüstet die Kommimisten. Allerdings, Verschiedenheiten der Arbeitsentschädigung werden dadurch hervorgerufen, aber nicht dieselben, die heute existiren, sondern die gerade entgegengesetzten. Heutzutage ist der Arbeiter um so schlechter bezahlt, je schwerer, um so besser, je leichter seine Arbeit ist. Im sozialistischen Staate wird es anders sein. Je leichter und angenehmer eine Arbeit, desto schlechter wird sie entschädigt werden; je grösser der Genuss, den der Arbeitsprozess gewährt, desto weniger Genussmittel stehen dem Vollzieher desselben zu Gebote. Es wird keinen unterschied machen, ob der eine durch seine Arbeit dem Gemeinwesen einen grösseren Dienst leistet als der andere, denn nicht der Erfolg der Arbeit, sondern das Opfer an Müsse und Arbeitskraft bestimmt deren Entschädigung. Freilich, wer sich von den modernen Anschauungen nicht losmachen kann, dem wird es auf den ersten Blick sonderbar, ja ungerecht erscheinen, dass die Watt’s und Humboldt’s des Zukunftsstaates nur eine geringe Entschädigung für ihre Arbeiten erhalten, ganz „gemeine“ Bergarbeiter dagegen eine viel höhere. Aber man bedenke, dass die ersteren zufrieden sein werden, wenn sie ohne Behinderung durch die kleinlichen materiellen Sorgen sich ganz ihren Forschungen hingeben können. Sie werden so viel haben, als ein Mensch zum Leben braucht, sie werden genügend Zeit und Müsse haben, alle Schätze der Wissenschaft und Kunst werden ihnen, wie jedem anderen Bürger des Zukunftstaates, offen stehen: was brauchen sie mehr? Der wahre Künstler und der wahre Mann der Wissenschaft sind so von ihrem Berufe erfüllt, dass sie freudig sogar Hunger und Elend ertragen, wenn sie nur ihrem innem Drange gehorchen können. Sobald die Noth und die Entbehrungen, welche heute so viele entwicklungsfähige Keime zertreten, für jeden ohne Ausnahme, mag er durch seine Arbeiten die Anerkennung seiner Mitmenschen erringen oder zu den verkannten Genies zählen, beseitigt sind, werden so viele und so begabte Schüler der Künste und Wissenschaften auftreten, welche auch ohne den Genuss von Luxusartikeln in der Ausübung ihres Berufes sich glücklich fühlen werden, dass der Zukunftsstaat mit leichtem Herzen auf diejenigen Künstler verzichten wird, welche bei Champagner und Ballerinnen sich ihre Begeisterung holen, und ebenso auf diejenigen Herren Universitätsprofessoren, deren Eifer für die Wissenschadt mit den Kollegiengeldern sinkt und steigt. Solche Vertreter von Kunst und Wissenschaft sind die nothwendigen Ergebnisse der modernen Gesellschaft, sie sind daher mit vollem Recht die erbittertsten Gegner des Sozialismus, sie sind es, welche das Zetergeschrei anstimmen: im sozialistischen Staate müssen Kunst und Wissenschaft zu Grunde gehen, weil sie nicht mehr Mittel zur Ausbeutung der Nebenmenschen sein werden. Wenn diese Herren sich im sozialistischen Staate von ihrem Berufe abwenden und den „gemeinen“ Beschäftigungen zuwenden werden, weil diese mehr „eintragen“, falls sie es nicht vorziehen, auszuwandern, so wird dies weder ein Schaden für Kunst und Wissenschaft, noch für die Menschheit sein.

Ich habe bisher immer gesagt, wie es sein wird, nicht wie es sein soll; denn nicht vom Standpunkte der Gerechtigkeit, sondern von dem der naturnothwendigen Entwicklung des Sozialismus aus erscheint mir der vorgeschlagene Vertheilungsmodus als der richtige. Er wird sich der kommenden Gesellschaft nothwendigerweise aufdrängen, wenn sie ihn nicht freiwillig einführt. Ist er aber einmal eingeführt, dann regelt sich die Vertheilung und auch die Produktion fast von selbst. Er erfordert weder eine komplizirte Buchführung noch eine zwangsweise Rekrutirung der einzelnen nach ihrer körperlichen und geistigen Befähigung zu den verschiedenen Berufszweigen, wie man sie vorgeschlagen hat. Er rechnet ferner mit den Gefühlen und Neigungen, welche heutzutage unter den Menschen herrschen, er verlangt kein ideales Menschengeschlecht. Er kommt weiters bereits mit dem vorhandenen Stande der Technik aus und braucht sich nicht auf Erfindungen und Entdeckungen zu stützen, die man gerne gemacht sehen möchte, die aber noch nicht gemacht sind: kurz und gut, er ist schon heute durchführbar in dem Momente, als wir die politische Gewalt in die Hände bekommen.

Nehmen wir an, die Revolution bräche morgen los, die Staatsgewalt läge auf der Strasse, und wir wären stark und energisch genug, sie aufzuheben. Was werden wir thun, abgesehen von momentanen Massregeln, die den Zweck haben, die politische Macht zu behaupten, was werden wir thun, um unsere sozialen Forderungen zu verwirklichen?

Für jeden Arbeiter wird der Beitritt zu einer Gewerkschaft obligatorisch gemacht – wo organisirte Arbeiter noch nicht existiren, halte ich überhaupt unsere sozialen Forderungen für undurchführbar: dort muss sich die Arbeiterklasse darauf beschränken, die wirkliche politische Gleichstellung mit den übrigen Klassen zu erlangen. Neben dem obligatorischen Beitritt zu einer Gewerkschaft muss das Bestreben Platz greifen, die verschiedenen Gewerkschaften desselben Landes und derselben Branche zu amalgamiren. Dieser amalgamirten Gewerkschaft sämmtlicher Arbeiter desselben Industriezweiges werden die entsprechenden im Lande vorhandenen Etablissements zum Betrieb übergeben. Ob dieselben durch Ablösung oder Konfiskation in die Hände des Staates gelangen, ist gleichgiltig. Von der Einrichtung eines für jeden obligatorischen Minimalarbeitstages wird man vorläufig absehen müssen. Es wird genug Mühe kosten, bis jede Gewerkschaft sich entsprechend organisirt, um ihre Berufsarbeit fortzuführen.

Der Staat wird nun vermittelst statistischer Erhebungen den Bedarf der Bevölkerung feststellen und den Gewerkschaften mittheilen. Diese werden darnach berechnen, wie lange die Arbeitszeit anzusetzen sei, und wie viele Arbeiter sie benöthigten. Der Staat setzt nun, gestützt auf die voraussichtliche Grösse des zu erwartenden Arbeitsproduktes und die Zahl der Konsumenten das Maass der durchschnittlich auf jeden entfallenden Lebens- und Genussmittel, sagen wir kurz, einen Durchschnittslohn fest, der für alle Industriezweige gleich ist. Jeder Gewerkschaft wird eine Summe an Löhnen in dem Verhältniss zugetheilt, in dem sie Arbeiter benöthigt. Nehmen wir an, die Gewerkschaft der Schuhmacher benöthige 100.000 Arbeiter, so werden ihr 100.000 Durchschnittslöhne zur Verfügung gestellt. Aber die Schuhmacherei ist kein angenehmes Handwerk: statt 100.000 treten blos 50.000 Arbeiter der Schuhmachergewerkschaft bei. Da aber 100.000 Durchschnittslöhne der Gewerkschaft zur Verfügung stehen, wird jeder Schuhmacher den doppelten Lohn erhalten. Diese Lohnhöhe wird die anderen, welche das Schuhmacherhandwerk verstehen, sich aber anderen Gewerkschaften zugewendet haben, reizen, sich auch der Schuhmacherei zuzuwenden: es treten noch 20.000 der Schuhmachergewerkschaft bei, so dass diese nun im Ganzen 70.000 Mitglieder zählt. Es würden noch mehr beitreten, aber schon durch den Eintritt dieser 20.000 hat sich der Schuhmacherlohn von 2 auf 10/7 gesenkt. Durch den Beitritt weiterer würde er sich noch mehr senken, 10/7 daher derjenige Lohn, der der Schuhmacherei gebührt; wenn derselbe jedem Schuhmacher gewährleistet wird, so ist zu erwarten, dass die genügende Anzahl sich melden werde, sobald von Staatswegen zum Beitritte aufgefordert und derselbe als eine sehr verdienstvolle Handlung gepriesen wird. Der Schuhmachergewerkschaft muss demnach der Staat nicht 100.000, sondern vielmehr 142.857 Durchschnittslöhne zur Verfügung stellen. Ob dann die Gewerkschaft diese Löhne nach Individuen auf kommunistische Weise oder nach der Arbeitsleistung gemäss dem individualistischen Prinzipe vertheilt, ist von sekundärer ledeutung und könnte der Bestimmung der einzelnen Gewerkschaften überlassen werden. Zwischen den einzelnen Gewerben wird aber und muss Ungleichheit herrschen, man wird zu ihr gezwungen werden, auch wenn man absolute Gleichheit eingeführt hat. Diese Ungleichheit ist keine Ungerechtigkeit, denn sie basirt auf der Gleichheit der Anziehungskraft der Arbeit, welche auf diese Weise von selbst, ohne mühsame Berechnungen, ohne Zwangseinrichtungen sich einstellt.

Aber diese Ungleichheit ist nicht nur in ihrem letzten Grunde die höchste Gleichheit, ihre naturnothwendige Konsequenz ist vielmehr auch die äusserliche Gleichheit, die Gleichheit in der Vertheilung.

Die Ungleichheiten der verschiedenen Löhne werden darauf hinweisen, wie ungleichmässig die Annehmlichkeiten der Arbeit seien. Sie bieten einen für jeden Bürger des Sozialstaates leicht erkennbaren Maassstab dieser Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten. Die allgemeine Aufmerksamkeit wird sich also gerade den unangenehmsten Arbeiten zuwenden und nachsinnen darüber, wie sie ihres abstossenden Charakters entkleidet werden könnte. Nicht nur die Humanität, auch der Egoismus werden die Aufmerksamkeit auf diese Arbeiten lenken. Denn je höher der Lohn derselben ist, desto kleiner die Menge der Genussmittel, die für die anderen übrig bleibt, da ja stets nur eine gewisse Summe derselben vorhanden sein wird. Es ist aber durchaus nicht bedeutungslos, auf welche Richtung der menschliche Erfindungsgeist gelenkt wird, denn die Erfindungen sind nicht Werke des Zufalls, sondern langen, mühevollen Nachdenkens und Arbeitens, sie werden stets auf dem Gebiete gemacht, welches gerade das allgemeine Interesse in Anspruch nimmt. Unter der kapitalistischen Produktionsweise haben die Erfindungen nur den Zweck, menschliche Arbeitskraft überflüssig zu machen und zwar am meisten dort, wo sie am theuersten ist. Unter der sozialistischen Produktionsweise werden die Erfindungen in Folge des eben erwähnten Antriebes, in anderer Richtung sich zeigen.

Erstens wird man sich bemühen, die Summe der unangenehmen, gefährlichen oder gesundheitsschädlichen Arbeiten dadurch zu vermindern, dass man die Produkte derselben entbehrlich macht und durch andere ersetzt. Die jetzt schon entbehrlichen dieser Produkte wird der Sozialstaat natürlich ohnehin nicht weiter erzeugen, auch wenn sie nicht ersetzbar sein sollten, was jedoch bei vielen derselben, namentlich bei den mit Quecksilber belegten Spiegeln, dem Schweinfurter Grün, den Phosphor-Zündhölzchen, den Zündhütchen etc. heutzutage bereits der Fall ist. Wo das nicht angeht, wird man darnach trachten, diese Arbeiten so wenig mühsam, unangenehm und gefährlich als möglich zu machen, durch Schutzvorrichtungen, gehörige Abwechslung, sanitäre Einrichtungen, wie Bäder, Aufstellung von Terpentin in den Arbeitsräumen etc. Endlich aber drittens, wo weder das erste noch das zweite möglich ist, wird man sich bemühen, durch Arbeitstheilung und Erfindung von Maschinen die betreffenden Gewerbe zu solchen zu gestalten, welche jeder binnen Kurzem erlernen kann, so dass sie auf diese Weise in das Gebiet des für jeden obligatorischen Minimalarbeitstages gelangen und dadurch, dass jeder sie und nur kurze Zeit lang verrichten muss, an Unannehmlichkeit bedeutend verlieren. So besteht das Endziel dieser Bewegung darin, dass alle unangenehmen Arbeiten von der Gesammtheit verrichtet werden, alle Berufsarbeiten dagegen gleich angenehm sind, so dass es blos einer Erwähnung bedarf, um die entsprechende Arbeiterzahl der entsprechenden Thätigkeit zuzuführen. Auch die auf jeden entfallende Summe von Genussmitteln wird dann eine gleiche sein und so die Gleichheit als das Ergebniss der Ungleichheit sich einstellen. Die vollständige Gleichheit aber schon im Beginne der sozialistischen Produktionsweise einführen zu wollen, wäre ein Beginnen, das sich nur zu bald rächen würde. Diese anscheinende Gleichheit steht im Widerspruche mit dem Geiste der sozialistischen Produktionsweise, denn diese Gleichheit ist in Wirklichkeit die grösste Ungleichheit.


Zuletzt aktualisiert am 21. September 2016