Karl Kautsky

Tschernischewsky und Malthus

(1881)


Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, II. Jg., Zürich 1881, S. 70–87.
Transkription: Archive.org.
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Unter den vielen Gegnern, welche Malthus gefunden hat, dürfte ihm keiner so gefährlich geworden sein, wie der russische Sozialist Tschernischewsky, der durch seine blendende mathematische Methode die malthus’sche Bevölkerungstheorie anscheinend unwiderlegbar vernichtete. Es ist unleugbar, dass Tschernischewsky’s Methode originell und genial zugleich ist, und dass wichtige Wahrheiten mit ihrer Hilfe gewonnen worden sind. Aber die mathematische Methode ist auch sehr gefährlich, da der geringste Fehler in den Prämissen im Laufe der Rechnung so anschwellen kann, dass er das ganze Zahlengebäude, das man auf dieselben baute, umwirft. Sobald man daher in den Voraussetzungen sich ein noch so unbedeutendes Versehen zu Schulden kommen lässt, gelangt man zu Resultaten, welche mit der Wirklichkeit in schreiendem Widerspruche stehen, ohne dass in der Rechnung ein Fehler nachweisbar wäre.

Ein Beispiel dafür bietet das bekannte Sophisma des Zeno:

„Achilles“, heisst es da, „verfolgt eine Schildkröte. Achilles läuft zehnmal so schnell als die Schildkröte und ist beim Beginn der Verfolgung hundert Schritte von ihr entfernt. Er befindet sich in A, die Schildkröte in B. Während der Zeit, als Achilles von A nach B lief, bewegt sich die Schildkröte von B nach C, und zwar legte sie zehn Schritte zurück, indess Achill hundert zurücklegte. Ist Achill in C angelangt, so befindet sich die Schildkröte in D, einen Schritt von C entfernt. Kommt Achill nach D, so ist die Schildkröte bereits in E, 1/10 Schritt von D entfernt, angelangt, kurz, die Entfernung zwischen Achill und der Schildkröte wird immer kleiner, aber gleich Null wird sie nie, Achill wird daher nie die Schildkröte einholen.“

Der Fehler ist nicht leicht herauszufinden, und dennoch weiss Jeder, möge der mathematische Beweis noch so sicher sein, dass Achilles schliesslich die Schildkröte einholen muss. Man weiss das, selbst wenn man nichts von Mathematik versteht, weil die Erfahrung uns belehrt, dass ein schnellfüssiger Mann eine Schildkröte einholen muss. Ist es aber schon bei einem so einfachen Beispiel schwer, ohne Hilfe der Erfahrung sich vor einem Irrthum zu schützen, so ist dies noch viel schwerer auf nationalökonomischem Gebiete. Die nationalökonomischen Prozesse sind viel komplizirter als alle anderen, es ist fast unmöglich, alle Faktoren, welche bei denselben wirken, in Betracht zu ziehen, ein Fehler daher fast unvermeidlich. Damit sei jedoch nicht gesagt, dass man Tschernischewsky’s Methode verwerfen müsse, im Gegentheil, diese Methode wird der politischen Oekonomie noch ungeahnten Nutzen bringen, aber sie ist unbrauchbar und gefährlich, so lange ihre Ergebnisse nicht von der Erfahrung kontrolirt werden.

Dies hat nun Tschernischewsky bei seiner Widerlegung der Malthus’schen Bevölkerungstheorie nicht gethan und konnte es nicht thun, denn zur Zeit, als er seine Kritik Mill’s schrieb, – sie erschien 1860, also vor zwanzig Jahren – war die Statistik so unvollkommen entwickelt, wie er selbst an mehreren Stellen beklagt, dass ihre Ergebnisse sich zu einer Prüfung seiner Behauptungen durchaus nicht eigneten. Seitdem hat jedoch dieser Zweig menschlichen Wissens einen enormen Aufschwung genommen, und wenn auch die Bevölkerungsstatistik noch nicht hinreichend entwickelt ist, um mit absoluter Gewissheit das Bevölkerungsgesetz aus ihr deduziren zu können, so bietet sie uns doch wenigstens die Möglichkeit, zu untersuchen, ob Tschernischewsky’s Aufstellungen richtig waren, und wir können wenigstens mit grosser Wahrscheinlichkeit erkennen, in welcher Richtung die Bevölkerungsbewegung, wenn ungehemmt, vor sich gehen würde. Im Interesse der Wissenschaft ist es höchlich zu bedauern, dass Tschernischewsky nicht selbst Gelegenheit hat, dem Fortschritt der Wissenschaft zu folgen; denn wir sind überzeugt, er hätte seine Ansichten demselben entsprechend modifizirt; ist es doch eine der liebenswürdigsten Eigenschaften des Genies, begangene Fehler einzusehen und zu verbessern. Leider aber hat ein fluchwürdiger Despotismus den edlen Freiheitshelden für die menschliche Gesellschaft und für die Wissenschaft todt gemacht, wenn er ihm auch fortzuvegetiren erlaubte. Anderen, Glücklicheren, denen die Fortschritte der Wissenschaften zugänglicher sind als dem in Sibirien schmachtenden Märtyrer, fällt daher die Aufgabe zu, das zu thun, was Tschernischewsky selbst am Besten gethan hätte: Die Ergebnisse seiner Forschungen dem Fortschritte des Wissens anzupassen. Von diesem Standpunkte aus und nicht etwa als Feindschaft gegen den von mir hochverehrten Mann möge man es betrachten, wenn ich es unternehme, seine Widerlegung der Malthus’schen Theorie einer Kritik zu unterziehen. Ich halte eine solche für geboten, Angesichts der zahlreichen Irrthümer, die sich in diesen Kapiteln finden, und der Wichtigkeit, welche das Thema für die Sozialwissenschaft besitzt. Wenn ich mich nur mit diesen Irrthümem befasse, die Vorzüge der Tschernischewsky’schen Auffassung dagegen unerwähnt lasse, so möge man nicht daraus schliessen, dass ich ihr solche nicht zuerkenne. Ich weiss dieselben wohl zu würdigen, aber ich glaube, dass sie dem Publikum, an welches ich mich wende, bereits bekannt sind, indess man sich mit seinen Irrthümern meines Wissens noch nicht befasst hat.

Von vornherein aber verwahre ich mich gegen den Verdacht, als beabsichtigte ich eine Ehrenrettung von Malthus. Wenn es sich nur um Malthus handeln würde, dann wäre eine Kritik Tschernischewsky’s unnöthig, ja unmöglich, denn Malthus ist von ihm so schlagend widerlegt worden, dass eine Rettung des Malthus’schen Buches und der Malthus’schen Person nicht mehr möglich ist. Die Art und Weise, wie Malthus seine Lehre vorgetragen hat, und die Konsequenzen, die er aus derselben zog, sind heute unhaltbar, und es ist wesentlich das Verdienst Tschernischewsky’s, dies nachgewiesen zu haben. Aber der Kern der Malthus’schen Bevölkerungstheorie hat sich gehäutet und präsentirt sich heute in einer anderen Form, als zur Zeit, wo Tschernischewsky schrieb, auch die Konsequenzen, die man aus ihr zieht, hat man wesentlich modifizirt: nur insoweit die Tschernischewsky’schen Auslassungen diesen durch die Wissenschaft purifizirten Neu-Malthusianismus berühren, den er gar nicht kannte, bieten sie schwache Seiten, und mit diesen allein will ich mich beschäftigen.

Wir werden daher Tschernischewsky sicher Recht geben, wenn er behauptet:

„Die Voraussetzung, dass das Produkt des englischen Ackerbaues binnen 25 Jahren verdoppelt werden könne, erschien ihm als die äusserste Grenze des Möglichen. Das ist eine Naivetät, die Jeden lächeln machen muss, der Gelegenheit hatte, irgend eines der modernen Bücher der Agronomie zu lesen.“ [1]

Es ist sicher, dass das Produkt des grossbritannischen Ackerbaues sehr vermehrt werden kann und wohl mehr als auf das Doppelte. Die Berechnung aber, die er hierauf folgend anstellt, kann „alle Jene, welche Gelegenheit hatten, eines der modernen Bücher über Agronomie zu lesen, nur lächeln machen.“

Diese Berechnung beruht nämlich auf Annahmen, wie sie die landwirthschaftliche Routine, die sich vor 30–40 Jahren Wissenschaft nannte und noch jetzt manche Lehranstalt unsicher macht, bieten konnte, nicht aber die moderne auf wissenschaftlicher Basis ruhende Agronomie. Tschernischewsky meint nämlich:

„Grossbritannien und Irland umfassen ungefähr 61½ Millionen Acres (zirka 25 Millionen Hektaren) anbaufähigen Landes. (Statistik von Kolb, 2. Aufl., pag. 5.) Nach Gasparin (cours d’agriculture IV, pag. 231 u. ff.) genügt das Produkt von 100 Hektaren bei gut organisirter Koppelwirthschaft zur Erhaltung von 931 Menschen. Grossbritannien und Irland könnten also auf diese Weise eine Bevölkerung von 230 Millionen ernähren. 1800 zählte das vereinigte Königreich ungefähr 29 Millionen Menschen (Kolb, pag. 1) und davon nähren sich nicht mehr als 25 Millionen von den Produkten des einheimischen Ackerbaues (die durchschnittliche Einfuhr von Getreide nach England muss heutzutage auf 8–10 Millionen Quartres angeschlagen werden (Kolb, pag. 25) eine Menge, welche sicher für mehr als vier Millionen Menschen ansreicht). Man sieht also, dass die Einwohner der britischen Inseln durch Einführung einer rationellen Wirthschaftsmethode die Produktivität ihres Ackerbaues um das neunfache steigern könnten.“

Ich glaube, es heisst denn doch, sich die Arbeit zu sehr erleichtern, wenn man sagt: 100 Hektaren können 931 Menschen ernähren, folglich ernähren 25 Millionen Hektaren 250,000 Mal so viel Menschen. Eine auch nur annähernd richtige Berechnung dessen, was ein Land hervorbringen kann, ist ungemein komplizirt, fast unmöglich. Schon die verschiedene Güte des Bodens lässt es nicht zu, dass man aus dem möglichen Produkt von 100 Hektaren das mögliche Produkt eines ganzes Landes berechnet. Wenn man dies aber auch wollte, hätte man noch folgendes in Betracht zu ziehen. Es ist ein Prinzip der modernen Raubwirthschaft, es kann aber nicht das einer auf wissenschaftlichen Grundsätzen beruhenden Agronomie sein; dass man dem Boden möglichst viel seines Ertrages abpresst ohne Rücksicht auf die Dauer und die Nachhaltigkeit der Erträge. Kur die moderne Raubwirthschaft, die sich allerdings auch Agronomie nennt, vermöchte vielleicht ein dem Obigen nahekommendes Produkt zu liefern.

Um sich aber die Nachhaltigkeit der Erträge zu sichern, bedarf es vor Allem der Erhaltung der Bodenfeuchtigkeit, d. h. der Erhaltung der Wälder, der Seen, der Ueberschwemmungsgebiete der Flüsse etc. Wo die Entwaldung ein gewisses Maass erreicht hat, nimmt die konstante Bodenfeuchtigkeit ab und wird ersetzt durch die beiden Extreme der Hochfluthen und Dürren. In Mesopotamien, Kleinasien, Griechenland, Sizilien sehen wir die verderblichen Folgen der Entwaldung am deutlichsten; diese ehemals so blühenden Kulturländer sind heute nichts als entvölkerte Wüsten, welche durch die zeitweilig auftretenden Ueberschwemmungen nicht bewässert, sondern des letzten Bestes anbaufähigen Bodens beraubt werden. In diesen Zustand würde Europa versetzt werden, wenn man nach Tschernischewsky dem gesammten anbaufähigen Land einen möglichst hohen Ertrag abgewinnen wollte. Die bisher in Europa mit Wald bestandene Fläche darf nicht nur nicht vermindert, sie muss vermehrt werden; überall, selbst in Russland, ja selbst in einigen Theilen Amerika’s ist die Entwaldung schon zu weit vorgeschritten. In Russland nehmen die Dürren und Ueberschwemmungen zu, die Unterschiede zwischen Sommer- und Frühlingswasser in den mittleren und unteren Strecken der russischen Ströme betragen oft 6–7 Meter. Um den entvölkernden Folgen der Entwaldung zu entgehen, wie sie sich in unserem Jahrhunderte fühlbar machen, muss man mindestens den Waldbestand herstellen, den Europa im vorigen Jahrhundert gehabt hat, 40 % seiner Bodenfläche.

Es beträgt aber die Waldfläche in

Deutschland

 

25,4 %

 

der Gesammtfläche

Preussen

23,3 %

 

Baiern

32,0 %

Sachsen

30,5 %

Württemberg

30,6 %

Baden

33,4 %

Grossbritannien

  2,4 %

(!)

England und Wales

  3,9 %

 

Schottland

  0,6 %

(!)

Irland

  1,6 %

 

Niederlande

  6,8 %

Belgien

15,1 %

Schweiz

19,1 %

Norwegen

31,1 %

Schweden

39,5 %

Italien

22,9 %

Ungarn

26,8 %

Oesterreich

31,6 %

Russland

39,2 %

Frankreich

17,0 %

In Grossbritannien ist die Entwaldung am weitesten vorgeschritten. Allerdings besitzt dieses Land eine sehr günstige inssulare Lage, welche den Wald als Erhalter der Bodenfeuchtigkeit nicht so nothwendig erscheinen lässt, als auf dem Kontinente; nichtsdestoweniger zeigt die Entwaldung auch in Grossbritannien ihre vernichtenden Folgen, allerdings nicht in grossen Dürren, aber in verheerenden Ueberschwemmungen. Wenn auch nicht 40 % müssen doch mindestens 20 % der Bodenfläche Grossbritanniens bewaldet sein, wenn befriedigende klimatische Verhältnisse bestehen und Extreme in den Niveaus der Gewässer vermieden werden sollen. Besonders in gebirgigen Gegenden, also namentlich in Wales und Schottland ist eine erhebliche Vermehrung der Wälder unerlässlich, wenn nicht mit der Zeit der ganze fruchtbare Boden in die Flüsse geschwemmt werden soll. Man hat zwar in letzter Zeit viel urbares Land in Jagdrevier verwandelt. Aber bei diesem Vorgehen spielte blos die Jagdpassion der edlen Lords, nicht aber irgend ein volkswirthschaftliches Motiv eine Holle. Es handelt sich nicht um Einführung einer geregelten Forstwirthschaft, sondern blos um Ersetzung des Menschen durch wilde Thiere. Die neugeschaffenen Jagdreviere sind also nicht so sehr Wälder, sondern vielmehr öde, spärlich mit Gestrüpp bewachsene Haiden.

Nehmen wir also 20 % der Bodenfläche als Minimum dessen an, was dem Wald zusteht, so bleiben von den 25 Millionen Hektaren nur mehr 20 Millionen übrig. Aber auch diese 20 Millionen können nicht insgesammt in Ackerland verwandelt werden. Nur auf ebenen oder wenig geneigten Flächen ist der Ackerbau möglich, steilere Flächen muss man der Wiesenkultur überlassen, weil die Ackerkrume von ihnen abgespült würde. Heutzutage freilich sind in Grossbritannien zu viel Wiesen vorhanden, da man die Viehzucht auf Kosten des Körnerbaues bevorzugt und viel Ackerland in Wiesen verwandelt, welches sich ganz gut zum Anbau von Cerealien eignen würde. In England beträgt die Wiesenfläche 29.8 % der Gesammtfläche, in ganz Grossbritannien 28.2 %, in Irland sogar 46.8 %! Das ist entschieden zu viel. Wir werden das arithmetische Mittel zwischen der Wiesenfläche Frankreiebs – 21.8 % – und der Oesterreichs – 27.2 % – als das für die grossbritannische Bodengestaltung entsprechende Verhältniss annehmen können, also 24.5 % der Gesammtoberfläche; das ist über sechs Millionen Hektaren. Es bleiben somit blos 14 Millionen von den 25 übrig, welche aber ebenfalls nicht den von Tschernischewsky berechneten Ertrag liefern würden, da die Güte des Bodens, besonders in Schottland und Wales, eine sehr geringe ist. Dass der Bodenertrag Grossbritanniens durch eine rationelle Bewirthschaftung, wie sie dem Stande unseres Wissens entspricht, verneunfacht werden könnte, ist, wie man ans dieser Berechnung ersieht, übertrieben; aber es ist entschieden richtig, dass durch den Uebergang zu einer vernünftigen Produktionsweise der Bodenertrag Grossbritanniens innerhalb 25 Jahren viel mehr als verdoppelt werden, vielleicht sogar vervierfacht werden könnte.

In anderen Ländern wäre aber eine Erweiterung des Nahrungsspielraumes in noch grösserem Maasse möglich. Der jährliche Ertrag an Weizen von einem Acre Land betrug in Holland 28½ Bushels, in England 28–29½, in Belgien 201/8, Württemberg 18, Baiern 161/8, Frankreich 131/8, Oesterreich 12½, Ungarn 8½, Russland 51/8. Wenn auch der englische (nicht grossbritannische) landwirthschaftliche Betrieb so entwickelt ist, dass wir ein viel höheres Erträgniss, als er liefert, vorläufig kaum erwarten können, dürfen wir doch getrost annehmen, dass 30 Bushels per Acre durchschnittlich jedes Land liefern könnte, sobald ein rationeller Grossbetrieb auf sozialistischer Grundlage in demselben durchgeführt ist. Das Produkt Frankreichs würde sich allsogleich mindestens verdoppeln, – viel mehr dürfte man kaum erwarten, angesichts dessen, dass viel bebautes Land wieder aufgeforstet werden musste: Frankreichs Weidereien nehmen blos 17 % seiner Gesammtfläche ein. In Russland dagegen liesse sich das Agrikulturland leicht von 20%, die es heute einnimmt, auf 30 % der Gesammtfläche ausdehnen, zugleich der Ertrag jedes Acres versechsfachen, der Bodenertrag also verneunfachen. Was Tschernischewsky für Grossbritannien berechnet hat, wäre also für Russland giltig.

Wir sehen, dass Tschernischewsky in seinem Optimismus, Malthus in seinem Pessimismus zu weit geht. Unter gewissen historischen Voraussetzungen ist es durch den Uebergang zu einer höheren Betriebsweise möglich, den Bodenertrag innerhalb einer kurzen Periode ungemein zu vermehren, in Russland z. B. heutzutage fast zu verzehnfachen. Man darf aber nicht glauben, dass eine derartige Vermehrung immer möglich sei. Eine solche kann nur dann durchgeführt werden, wenn die sozialen, politischen und technischen Verhältnisse den Uebergang zu einer höheren Gesellschaftsform erlauben.

Die nächstfolgenden Ausführungen Tschernischewsky’s haben blos den Zweck, Malthus’ Unwissenheit und Leichtfertigkeit darzuthun, was auch dem russischen Gelehrten unwiderleglich gelungen ist. Wir wollen auf dessen Ausführungen erst dort wieder näher eingehen, wo er sich bemüht, zu zeigen; wie geringer Fortschritte in der Technik es bedürfe, um den Lebensmittelstand immer auf einer der Bevölkerung genügenden Höhe zu halten.

Mittelst einer äusserst scharfsinnigen Berechnungsmethode kommt er hier zu dem Schlüsse, dass der Fortschritt der nothwendigen Ver- besserungen in der Agrikultur, um dem Fortschreiten der Bevölkerung zu genügen, wenn dieselbe durch nichts in ihrem Anwachsen gehindert werde, betragen müssen [2]:

1860

1885

1910

1935

1960

1.00

1.0214

1.0434

1.0657

1.0886,

das heisst mit anderen Worten, wenn die Agrikultur innerhalb 100 Jahren sich blos um 9 % verbessert, genügt sie, um die Bevölkerung zu befriedigen, selbst wenn diese sich wirklich innerhalb 25 Jahren verdoppeln würde, was hier Malthus vorläufig zugestanden ist. Dass eine solche geringfügige Verbesserung nichts wäre, als ein chinesischer Stillstand, dass wir gerechte Ursache haben, zu erwarten, die Fortschritte in der Agrikultur werden viel schneller vor sich gehen, ist unbestreitbar, dennoch können wir uns mit diesem Resultate Tschernischewsky’s nicht beruhigen, denn so tröstlich und erfreulich es auch sein niag, es ist leider falsch.

Der Gang der Beweisführung ist hier, wie immer bei Tschernischewsky, unantastbar; ich habe es deswegen nicht für nöthig gehalten, denselben hier zu wiederholen. Der Fehler liegt nicht in der Beweisführung, sondern in der Prämisse.

Der Beweis Tschernischewsky’s stützt sich nämlich auf die Ansicht von Malthus (die dieser übrigens nirgends scharf formulirt hat), dass die Produktivität der auf den Boden verwendeten Arbeit in demselben Verhältnisse abnehme, in dem die Zahl der Arbeiter zunehme. Wenn diese Ansicht von Malthus richtig wäre, dann hätte Tschernischewsky recht. Aber diese Ansicht ist, wie so viele andere Malthus’sche Ansichten, gänzlich unbegründet, und deswegen hat Tschernischewsky Unrecht. Die Fruchtbarkeit des Bodens ist ein launenhaftes Ding, welche sich durchaus nicht in mathematische Formeln bringen lässt. Es gibt Umstände, unter denen eine Verdoppelung der auf den Boden verwendeten Arbeit dessen Ertrag vervierfacht, und wieder andere, unter denen jeder weitere Arbeitszusatz keine Vermehrung des Produktes mehr bewirkt. Die Fortschritte in der Agrikultur gehen nicht so sehr dahin, dass man mit gleicher Arbeit ein grösseres Produkt erzielt, sondern dahin, dass man auf demselben Boden dasselbe Produkt mit weniger Arbeit erzielt. Ein englischer Landarbeiter fördert allerdings ein achtmal so grosses Produkt zu Tage, als ein französischer; aber die Produktivität des englischen Bodens ist trotzdem nicht achtmal, sondern nur doppelt so gross als die des französischen. Von einem gewissen Zeitpunkte an waren eben die Verbesserungen der englischen Agrikultur nur mehr zum geringsten Theile im Stande, den Bodenertrag zu vermehren, sie musste fortan fast ausschliesslich dahin wirken, Arbeiter überflüssig zu machen; in Folge dessen sehen wir, dass in England 12 %, in Frankreich dagegen 51 % der Bevölkerung im Landbau beschäftigt sind. Die Produktivität des Bodens steigt also in viel langsamerem Maasse, als die Produktivität der auf denselben verwendeten Arbeit. Von der Produktivität des Bodens aber, und nicht von der Produktivität der Arbeit hängt die Menge der vorhandenen Lebensmittel ab. Wenn sich innerhalb 100 Jahren die Bevölkerung versechzehnfacht, so können allerdings 16 Arbeiter ein Feld bebauen, welches heute einer bebaut, aber ich bezweifle, dass in Folge dieser vermehrten Arbeit und hinzugefügten 9 % Verbesserungen ein Halm sechzehnmal so viel Aehren tragen wird, als heute, die Bäume sechzehnmal schneller wachsen, das Vieh sich sechzehnmal so schnell vermehren wird, als heutzutage. Die menschliche Arbeit kann solche Naturprozesse nur bis zu einem gewissen Gerade fördern, darüber hinaus ist sie ohnmächtig.

Aber selbst, wenn eine solche Vermehrung der Produktivität des Bodens, des Viehes etc. möglich wäre – obgleich jeder zugestehen muss, dass sie nicht möglich ist – selbst ein solcher Grad der Vermehrung der Produktivität der Landwirthschaft wäre unzureichend, um der Zunahme der Bevölkerung zu genügen, da mit der Zunahme der Bevölkerung die anbaubare Bodenfläche immer mehr abnimmt.

Es ist mir unbegreiflich, wie man darauf vergessen kann, dass die Menschen nicht in der Luft, sondern auf der Erde wohnen, dass sie Platz für ihre Wohnungen brauchen, dass immer mehr Raum für Menschenwohnungen erforderlich ist, je mehr Menschen auf der Erde sind, und immer weniger Raum für den Bodenanbau übrig bleibt. Manchem wird vielleicht eine solche Rücksichtnahme auf die Wohnplätze der Menschen lächerlich erscheinen, da der Raum, den sie einnehmen, doch zu unbedeutend sei. Eine kurze Berechnung möge diese eines Besseren belehren.

In den englischen Städten kommen 70.000 Menschen auf eine Quadratmeile. Da man aber in einem sozialistischen Staate (und nur um einen solchen handelt es sich hier) für eine gesunde und freundlichere Beherbergung der Menschen Sorge tragen wird, als dies heutzutage geschieht, kann man nicht wohl annehmen, dass eine Quadratmeile mehr denn 50.000 Menschen beherbergen werde.

Europa zählt heute 300 Millionen Einwohner, diese würden also nach diesem Maassstabe 6.000 Quadratmeilen für ihre Wohnplätze in Anspruch nehmen. Da der Flächeninhalt Europas nach Daniel 150.000 Quadratmeilen beträgt, so bleiben für Ackerbau, Viehzucht, Wald, sowie unzugängliche Gegenden 144.000 Quadratmeilen. Berechnen wir auf diese Weise das Verhältniss der Wohnplätze zur Gesammtfläche für den Zuwachs der Bevölkerung (wie bisher eine Verdoppelung innerhalb 25 Jahren angenommen), so erhalten wir folgendes Resultat:

1880

 

   300 Mill.

Menschen bewohnen eine Fläche von

  6.000 QM.

bleiben

144.000 QM.

1905

   600 Mill.

 

12.000 QM

 

138.000 QM.

1930

1.200 Mill.

24.000 QM.

126.000 QM.

1955

2.400 Mill.

48.000 QM.

102.000 QM.

1980

4.800 Mill.

96.000 QM.

  54.000 QM.

Jetzt ernährt eine Quadratmeile in Europa durchschnittlich 2.082 Menschen. Sie müsste ernähren:

1905

 

  4.348 Menschen

1930

  9.524

1955

23.529

1980

88.888

Das heisst mit anderen Worten: wenn die Bevölkerung sich versechzehnfacht, muss der Bodenertrag nicht um das Sechzehnfache, sondern um das Zweiundvierzigfache wachsen. Innerhalb hundert Jahren muss also jedes Feld 42 mal so viel hervorbringen, als es heutzutage hervorbringt. Wer das noch für möglich hält, ist kein Optimist mehr, sondern ein Narr.

Aber selbst diese ganz unmöglich schnelle Vermehrung des Ertrages würde auf die Dauer nicht genügen, denn setzen wir die oben begonnene Rechnung fort, so finden wir bereits für das Jahr 2005 9.600 Millionen Menschen auf einer Fläche von 192.000 Quadratmeilen, das heisst, die Einwohner Europa’s würden dann im Beginne des dritten Jahrtausends zum Wohnen allein eine Fläche bedürfen, die den Flächeninhalt unseres Welttheiles um 40.000 Quadratmeilen übersteigt. Die weitestgehenden Verbesserungen der Agrikultur würden dann in Europa nicht mehr hinreichen, einen Menschen zu ernähren.

Ich glaube, der Optimismus Tschernischewsky’s ist genügend als übertrieben erwiesen. Ich wiederhole nochmals, er hat Recht, wenn er Malthus seine Unwissenheit und Leichtfertigkeit vorwirft und es betont, innerhalb 25 Jahren könne der Bodenertrag unglaublich gesteigert werden; er hat Unrecht, wenn er glaubt, diese Steigerung lasse sich geraume Zeit hindurch, fortsetzen, und es haben die nächsten Generationen nichts zu fürchten.

Diese Gefahr ist jedoch nur unter der Voraussetzung eine drohende, dass wirklich, wie angenommen, die Bevölkerung sich innerhalb 25 Jahren verdoppeln könne. Diese Ansicht zu widerlegen bemüht sich Tschernischewsky im dritten Kapitel seiner Erörterung der Malthus’schen Theorie, welches handelt „de la multiplication des hommes“. (pag. 406)

Wie bisher, ist auch Tschernischewsky Malthus gegenüber im Rechte, welcher aus dem Beispiele der Vereinigten Staaten von Amerika entnehmen wollte, dass die Bevölkerung sich innerhalb 25 Jahren verdopple. Diese Berechnung ist falsch, da sie den Einfluss der Einwanderung ausser Acht lässt. Aber leider ist die, welche Tschernischewsky selbst anstellt, auf keiner solideren Basis. Tschernischewsky kommt zu dem Ergebniss, dass die grösste Schnelligkeit, mit welcher sich die Bevölkerung zu vermehren im Stande sei, sie erst innerhalb 35 Jahren verdoppeln könnte, dass aber die mögliche Verdoppelungsperiode wahrscheinlich viel länger sei. (pag. 438) Als er dies schrieb, konnte er nicht wissen, dass ein anderer Antimalthuaianer seine Berechnung umstossen werde. Carey, dieser wüthende Gegner von Malthus, musste nämlich zugeben, dass sich die weisse Bevölkerung der Vereinigten Staaten von 1820–50, also innerhalb 30 Jahren, verdoppelt hat – abgesehen von der Einwanderung.

Im Jahre

1820

betrug nämlich die weisse Bevölkerung

 

  8.107.000

 

1850

 

20.169.000

 

Zunahme

12.062.000

Während dieser Periode betrug die Zahl der Einwanderer

von

1820–1830

 

 

   203.979

 

1830–1840

   762.369

1840–1850

1.521.850

 

Im Ganzen

2.488.198

Trotzdem unter den Einwanderern 1/3 unter 15 oder über 40 Jahre alt waren, obgleich ferner mehr als die Hälfte derselben erst während des letzten Jahrzehnt’s eingewandert war, nimmt Carey dennoch horrender Weise an, dass sämmtliche Eingewanderte sich innerhalb des Zeitraumes von 1820–50 verheirathet hätten, und das jedes Paar von ihnen während dieser Zeit ein Kind mehr gezeugt habe, als der Verlust durch den Tod betrug, so dass die Zuwachsrate auf 1.244.099 angenommen werden kann. Wir wollen dies zugeben, so unwahrscheinlich es auch ist, angesichts des Umstandes, dass die Hauptstärke der Einwanderung erst 1846 begann. Von 1846–1849 betrug dieselbe:

1846

 

154.416

1847

234.968

1848

226.527

1849

297.011

 

912.922

Mehr als ein 7. der Summe ist also in den letzten vier Jahren eingewandert, während die jährliche Einwanderung von 1820–25 nicht einmal die Ziffer von 10.000 erreichte und 1823 sogar nur 6.350 betrug. Es ist also eine grosse Konzession, welche wir Carey machen, wenn wir ihm zugeben, dass die gesammte Einwanderung von 1820–50 sich um 1.244.099 vermehrt habe, besonders wenn man bedenkt, dass die Einwanderer, namentlich die Irländer, von denen von 1841–50 allein nahezu eine Million einwanderte, den ärmsten Schichten der Bevölkerung angehörten, die sich mühselig durchschlagen mussten, unter welchen daher die Sterblichkeit eine ausserordentliche war. Wenn wir trotzdem mit Carey annehmen, die Einwanderung von 2.488.198 habe sich von 1820–50 um 1.244.099 Köpfe vermehrt, der Zuwachs der Bevölkerung in Folge derselben habe also innerhalb 30 Jahren 3,732.297 Menschen betragen, rechnen wir ferner dazu die äusserst schwache weisse Bevölkerung der in dieser Zeit annektirten Staaten und Territorien Kalifomien, Texas und Neu-Mexiko, so erhalten wir einen Zuwachs von 3.900.000 Köpfen, welcher nicht der natürlichen Vermehrung zugeschrieben werden kann. Da aber die weisse Bevölkerung der vereinigten Staaten sich von 1820–50 von 8.107.000 auf 20.169.000, also um 12.062.000 im Ganzen vermehrt hat, beträgt die der naturlichen Prodoktionskraft zuzuschreibende Zunahme 8.162.000 Menschen; das heisst: selbst wenn man noch so viel Konzessionen den Antimalthusianern macht, kommt man zu einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb 30 Jahren. Und dies unter Zuständen, die sich von denen des alten Europa nicht sehr unterscheiden. In den Oststaaten sind es die gesellschaftlichen Einrichtungen, in denen des fernen Westens der Kampf mit der Natur, die eine grosse Sterblichkeit begünstigen. Hierzukommt die grosse Ausdehnung der Prostitution, in dem „far West“ verursacht durch den Mangel an Frauen, in den „zivilisirten“ Staaten des Ostens die natürliche Folge der kapitalistischen Produktionsweise. Endlich vergesse man nicht, dass die Verhinderung der Geburten auf künstlichem Wege in den Oststaaten etwas sehr Gewöhnliches ist.

Von einer Tyrannei des Mannes gegen die Frau, welche nach Tschernischewsky’s Ansicht die Volkszunahme so sehr befördern solle, dürfte in Amerika kaum zu sprechen sein, und ich halte mich daher vollkommen zu der Ansicht berechtigt, dass, wenn Noth, Elend, Ueberarbeit einerseits, Prostitution und Verhinderung der Geburten andererseits, aufhören, die Verdoppelung der Bevölkerung sehr wohl innerhalb 25 Jahren vor sich gehen könne, wenn sie heute schon innerhalb 30 Jahren vor sich geht.

Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass Achilles die Schildkröte einholen muss, trotz des mathematischen Beweises; die Erfahrung lehrt uns, dass der Optimismus Tschernischewsky’s unbegründet ist. Sein Irrthum ruht nicht in der Berechnung, sondern in den Prämissen. Untersuchen wir diese, damit wir, nachdem wir gesehen, dass Tschernischewsky sich geirrt hat, auch erfahren, warum er sich irrte.

Als er schrieb, war die Statistik nach unentwickelt, es standen ihm, wie er selbst sagt, keine positiven Daten zu Gebote, er musste sich „contenter de simples considérations.“ Wir sind glücklicher wie er, wenn wir demnach einsehen, dass er gefehlt hat, so ist dies weder unser Verdienst, noch seine Schuld. Aber eben deshalb darf man nicht aus Verehrung gegen Tschernischewsky dem Fortschritte der Wissenschaft sich entgegenstemmen. Könnte Tschernischewsky in unserer Mitte weilen, er würde selbst am meisten diejenigen verurtheilen, welche seine Ansichten zu Dogmen erheben wollen.

Der erste Fehler, den Tschernischewskv bei seiner Berechnung der Verdoppelungsperiode begeht, ist in der französischen Uebersetzung seines Werkes bereits von unserem Genossen De Paepe hervorgehoben worden: die Ansicht, dass während der Säugungsperiode eine Empfangniss nicht stattfinde, dass demnach, wenn jede Frau ihre Kinder genügend lange säuge, sie höchstens jedes zweite Jahr gebären könne. Schwangerschaft und Säugung sind durchaus nicht zwei nie zugleich vorkommende Erscheinungen; beide kommen öfters zugleich vor, nur beeinträchtigt ihr Zusammensein den Gesundheitszustand der Mutter.

Der zweite Irrthum Tschernischewsky’s bezieht sich auf die Kindersterblichkeit. Derselbe ist jedoch ebenfalls nicht sein Irrthum, sondern der Irrthum der unvollkommenen Statistik, auf die er sich stützte. Tschernischewsky nimmt an, dass die Neugeborenen so vielen GefAhren ausgesetzt seien, welche die Natur, nicht die Gesellschaft ihnen bereitet, dass ihre Sterblichkeit stets eine ausserordentlich grosse sein müsse, auch in einer wohlorganisirten Gesellschaft. Er stützt sich dabei auf die Ziffern des englischen Statistikers Chadwik, welcher fand, dass unter den Kindern der Besitzenden in England bis zum Alter von fünf Jahren 20 % sterben, und meint, dieser Prozentsatz sei der von der Natur bestimmte und könne durch den Fortschritt der Gesellschaft nicht verändert werden.

Die neuere Statistik spricht anders. Es ist wahr, unter den Kindern der Armen herrscht eine ungeheure Sterblichkeit. Von 1.000 Geborenen sterben innerhalb des ersten Lebensjahres in England überhaupt 150, in Liverpool 188, in London 250, in anderen englischen Städten sogar 330; vom 1.–5. Lebensjahre sterben 113,69, also innerhalb der ersten fünf Jahre mindestens 26 %. Ganz anders aber ist es mit den Kindern der Reichen. Von diesen sterben nach Ansell’s Beobachtungen an 48,044 Kindern wohlhabender Eltern per Mille im ersten Jahr 80,45, vom 1.–5. Jahre 46,84, also im Ganzen etwas über 12 %. Diese Ziffern (dem Malthusian entnommen) vernichten schon gänzlich Tschernischewsky’s Annahme, noch viel mehr thut es eine Berechnung, die wir einer malthusfeindlichen Quelle entnommen haben, der Statistik von Kolb. Pag. 833 berichtet dieser über die Untersuchungen Casper’s, welcher einerseits die in adeligen Familien eingetretenen Sterbefälle, andererseits die unter den Stadtarmen Berlins stattgefundenen zusammenstellte. Derselbe fand, dass von 1.000 zu gleicher Zeit Geborenen innerhalb der ersten fünf Jahre bei den Armen 345, bei den Reichen nur 57 starben – das gibt also nicht 20, sondern 5½ %.

Man sieht, wie sehr Tschernischewsky den Einfluss der Wohlhabenheit auf die Sterblichkeit unterschätzte. In Folge dieses Irrthums wird die ganze Berechnung falsch, welche er auf denselben aufbaut.

„Nehmen wir z. B. an,“ sagt er, „die Verdoppelungsperiode betrage 15 Jahre, so würde die Zahl der über 15 Jahre alten Individuen auf keinen Fall die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Die grössere Hälfte müsste nothwendigerweise aus Kindern bestehen, die das 15. Jahr noch nicht erreicht haben. Bei gänzlicher Abwesenheit von Noth und Elend dürfte die mittlere Lebensdauer wohl länger als 45 Jahre sein; aber selbst wenn wir diese nur zu 45 Jahren annehmen, so ergabt sich, dass nicht weniger als die Hälfte von den über 15 Jahre alten älter als 45 Jahre sein müsste. Was erhalten wir somit?

„Die Personen über 15 Jahre bilden einen Bruchtheil der Bevölkerung von weniger als

 

50    %.

„Unter ihnen bilden die Frauen die Hälfte [3], weniger als

25    %.

„Unter diesen die Frauen zwischen 15 u. 45 Jahren weniger als

12½ %.

„Wir sehen somit; dass, wenn wir eine Verdoppelungsperiode von 15 Jahren annehmen, die Frauen, deren Alter sie in Stand setzt, Kinder zu gebären, nothwendigerweise weniger 12½ %, das heisst, weniger als 1/8 der Bevölkerung ausmachen. Die Zahl der Geburten muss also weniger als 1/16, das heisst, weniger als 6,25 % der Gesammtbevölkerung ausmachen. Aber nehmen wir 6,25 % als richtig an. Von dieser Zahl der Neugeborenen werden den physischen Bedingungen unseres Daseins zu Folge selbst bei dem grössten Wohlstande des Volkes, ein Fünftel, also 1,25 % im zartesten Kindesalter sterben; es bleiben somit nur 5 % zur Vermehrung der Bevölkerung und zur Deckung des durch den Tod verursachten Verlustes an Menschen von mehr als fünf Jahren. Eine 15jährige Verdoppelungsperiode setzt aber einen Prozentsatz der Vermehrung von 4,73 voraus, so dass also zur Deckung des Defizits, welches der Tod unter den über fünf Jahre alten Menschen verursacht, nicht mehr als 0,27 % übrig bleiben. Mit anderen Worten: die Annahme einer Verdoppelungsperiode von 15 Jahren ist eine ausgemachte Absurdität.“ (pag. 419)

Diese Absurdität wäre zweifellos, wenn Tschernischewsky’s Ziffern richtig wären. Schon die „nécessité organique“, dass blos 6,25 % der Bevölkerung Neugeborene sein könnten, existirt nicht, da die Annahme, das Säugen des Kindes schliesse die Schwangerschaft aus, eine Frau könne, wenn sie ihre Kinder selbst säuge, nur alle zwei Jahr gebären, falsch ist. Aber selbst angenommen, ein ueberschreiten dieser Ziffer wäre unmöglich (es handelt sich hier um die physische Möglichkeit oder Unmöglichkeit, nicht um die Wahrscheinlichkeit einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb 15 Jahren), selbst dies angenommen, so glaube ich mit Bestimmtheit dargethan zu haben, dass es durchaus nicht in den „conditions organiques“ liegt, dass 1/5 der Neugeborenen innerhalb der ersten fünf Lebensjahre sterbe, dass diese conditions nur 5 % anstatt 20 % erfordern. Dies macht also nicht 1,25 % sondern blos 0,31 % der Bevölkerimg. Es bleiben demnach 5,94 und da ein Zuwachs von 4,73 % jährlich nothwendig ist, um eine Verdoppelung innerhalb 15 Jahren zu erreichen, bleiben zur Deckung des aus der Sterblichkeit entstehenden Defizits 1,21 % nicht 0,27 %. Mit letzterem das Defizit decken zu wollen, wäre allerdings „eine ausgemachte Absurdität“. Nicht aber mit der ersteren Ziffer. Daten über die Sterblichkeit der über fünf Jahre alten Bevölkerung allein liegen mir leider nicht vor, aber schon heutzutage finden wir eine Ziffer der Gesammtsterblichkeit (die Kinder unter fünf Jahren mitinbegriffen), welche geringer ist, als 1,21 %. Als in Neu-Seeland eine Periode eintrat, in der billige Lebensmittelpreise mit hohen Löhnen zugleich bestanden, sank die Sterblichkeit auf 1,25 %. Edwin Chadwik aber fand sogar in seinen Untersuchungen Ueber die Wohnungsverhältnisse der Lohnarbeiter, 1877, dass in London in guten Häusern die Sterblichkeit blos 1,13 %, in schlechten dagegen 3,8 % sei. Wenn nun innerhalb der heutigen Gesellschaft schon dergleichen Erfolge sich erzielen lassen, blos durch den Wohlstand, obgleich die wohlhabenden Klassen unter der ungesunden Luft der Städte, den Folgen von Ausschweifungen, Syphilis etc. fast eben so zu leiden haben, als die Proletarier, wer kann da bezweifeln, dass die Ziffer der Sterbefälle in einer vernünftig organisirten Gesellschaft weit unter 1,21 % sinken werde? Damit ist aber bewiesen, dass die Annahme einer Verdoppelung der Bevölkerung in 15 Jahren durchaus keine ausgemachte Absurdität ist. Die Erfahrung zeigt, dass eine Verdoppelung innerhalb 30 Jahren bereits in der modernen Gesellschaft möglich ist. Eine Verdoppelung in 25 Jahren ist daher nicht nur möglich, sondern fast gewiss, sobald Zustände herbeigeführt werden, welche Laster und Elend und die Furcht vor denselben beseitigen. Wohin wir aber bei einer Verdoppelungsperiode von 25 Jahren innerhalb eines Jahrhunderts kommen, habe ich oben gezeigt.

Angesichts dieser schlagenden Beweise halte ich es für unnöthig, auf die weiteren Ausführungen Tschernischewsky’s näher einzugehen, da sie sich für den denkenden Leser von selbst durch das Gesagte widerlegen. Nur zwei Punkte möchte ich berühren: die Ansichten Tschernischewsky’s über den Einfluss der Auswanderung und der Gleichberechtigung der Frau auf die Zunahme der Bevölkerung.

Mit Hilfe einer Auswanderung von nur 1 % der Bevölkerung hofft Tschernischewsky eine Bevölkerungszunahme, welche eine Verdoppelung innerhalb 35 Jahren mit sich führt, so zu verlangsamen, dass die Verdoppelung erst nach 73 Jahren eintritt; die Verdoppelungsperiode von 52 Jahren glaubt er auf diese Weise sogar auf 212 Jahre ausdehnen zu können.

Ich will hier absehen von den moralischen Bedenken gegen die Auswanderung, so schwer sie auch wiegen. Aber wenn man schon die Ueberzähligen, obgleich sie sich zu Hause wohl fühlen – und das will doch der Sozialismus erreichen – in die Fremde jagen will – freiwillig gehen sie nicht, die freiwillige Auswanderung ist ein Zeichen sozialer Missstände im Mutterlande – so hat man doch wenigstens die Pflicht, sie in Gegenden anzusiedeln, welche ihnen einen gesunden und angenehmen Aufenthalt bieten. Man darf sie nicht etwa nach Cayenne deportiren, blos deswegen, weil zu Hause auf dem Tische der Natur kein Kouvert mehr für sie aufgelegt ist und die Natur ihnen gebietet, sich zu entfernen. Das wäre fast ebenso inhuman, als der Malthusianismus. Will man sich aber auf die den Europäern zuträglichen Landstriche beschränken, dann wird man nicht viel finden.

In Amerika, wohin sich zuerst unsere Blicke wenden, ist nicht viel Raum für Europäer frei, wenn wir die Vereinigten Staaten ausnehmen. In diesen wird aber, wenn dort vernünftige Gesellschaftszustände herrschen und die Bevölkerung sich daher, wie wir nachgewiesen, innerhalb wenigstens 25 Jahren verdoppelt, die Volkszahl, welche heute 43 Millionen beträgt, innerhalb 100 Jahren auf das sechzehnfache, das heisst, auf 688 Millionen angewachsen sein. Diese werden Mühe haben, im Lande selbst ein Unterkommen zu finden, für Auswanderer wird daher daselbst gar kein Platz sein. Wir haben ferner Kanada mit 163.000 Quadratmeilen. Da aber davon 135.000 unbewohnbar sind, so bleiben höchstens 30.000 zur Kolonisation übrig. Ferner können wir Mexiko zu zwei Drittheilen Europäern für zuträglich erachten, das macht 20.000 Quadratmeilen. Ausserdem können wir nur nach Südbrasilien mit 15.000 Quadratmeilen, Argentinien und Uruguay mit 40.000 Quadratmeilen, und Chile mit 6.000 Quadratmeilen zu den Ländern zählen, in welchen die Europäer klimatische Zustände finden, die denen des Mutterlandes gleichen, und in denen ein angenehmes Leben möglich ist. Das macht zusammen für Amerika 111.000 Quadratmeilen, oder wenn wir die Summe nach oben abrunden wollen, da auch einige Theile Bolivias und Perus zur Kolonisation geeignet sind, so erhalten wir für Amerika 120.000 Quadratmeilen.

Zu diesen

 

 

120.000

 

Q. Meilen sind hinzuzurechnen

2/5 Sibiriens

  80.000

 

die Südseeinseln

  20.000

Australien

  20.000

Südafrika

  10.000

Zusammen

250.000

Q. Meilen

Dazu Europa

 

150.000

 

Summe

400.000

Q. Meilen

Wie lange wird dies vorhalten? Wir haben berechnet, dass im Jahre 2005 9.600 Millionen Europäer 192.000 Quadratmeilen, also fast die Hälfte des zur Verfügung stehenden Areals blos zum Wohnen gebrauchen werden. Im Jahre 2030 aber werden 19.200 Millionen bereits die ganze verfügbare Fläche dazu in Anspruch nehmen. Angesichts dieser riesenhaften Ziffern schwindet jede Aussicht auf Rettung durch die Auswanderung.

Besser begründet scheint Tschernischewsky’s Ansicht, dass die freiere Stellung des Weibes der schnellen Vermehrung Einhalt thun werde. Diese Ansicht hat viel Bestechendes für sich, und merkwürdigerweise ist es Mill, mit dem Tschernischewsky in diesem Punkte übereinstimmt. Aber Mill sowohl als Tschernischewsky lassen sich widerlegen und zwar durch niemand Geringeren, als – Tschernischewsky selbst. Derselbe ist eben nicht nur Nationalökonom und Mathematiker, er ist auch ein feiner Beobachter der Menschennatur, und als solcher macht er die Irrthümer des Mathematikers und Nationalökonomen wieder gut. Die Stelle, in welcher er über das Malthus’sche Verlangen einer Einschränkung der Liebe sich ausspricht, ist so ausgezeichnet, dass sie vollständig wiedergegeben zu werden verdient:

„Malthus glaubte oder suchte wenigstens Andere glauben zu machen, die Ursache des Uebels liege in der Geschlechtsliebe, diese müsse eingeschränkt und gebändigt werden. Aber das heisst nichts anderes, als der Natur die Schuld in die Schuhe zu schieben und die Lösung des Problems ausserhalb der menschlichen Kräfte zu suchen. Die Geschlechtsliebe ist keine gesellschaftliche Einrichtung, die vom jeweiligen Zustande der Gesellschaft abhängt, sie ist vielmehr ein jedem Einzelnen innewohnendes unabweisbares Bedürfniss, eine Funktion des Organismus, wie die Ernährung, die Zirkulation des Blutes, die Absonderungen der Galle, der Speicheldrüsen etc. Die Enthaltsamkeit von der Geschlechtsliebe zu fordern, hat eben so viel Sinn, als Enthaltung von der Nahrung zu verlangen. Es ist natürlich, dass der Mensch, je einsichtsvoller er wird, je mehr er fähig ist, in seinem eigenen wohlverstandenen Interesse zu handeln, desto mehr der Völlerei sich enthalten wird. Aber Alles, was man in dieser Beziehung erwarten kann, besteht doch wohl blos darin, dass man das Essen nicht über die von der Gesundheit geforderten Grenzen übertreibe. Erwarten, dass der Mensch aus Einsicht weniger Nahrung zu sich nehmen werde, als sein Organismus verlangt, heisst das unmögliche erwarten. Dies zu fordern, heisst grausam sein ohne die geringste Wahrscheinlichkeit, durch diese Grausamkeit etwas zu erreichen. Aus freien Stücken wird der Mensch niemals hungern. Mit Gewalt ihn dazu zwingen, das ist allerdings möglich. Aber die politische Oekonomie thut dar, dass Gewaltmassregeln noch niemals etwas Erspriessliches zu Tage gefördert haben. Sie beruht ganz auf dem Grundsatze, dass der Mensch nur ungezwungen zu guten Resultaten gelange. Von einer solchen freiwilligen Thätigkeit eine Enthaltsamkeit zu erwarten, welche die Grenzen des von der Hygiene Geforderten übersteigt, ist eine Absurdität. Wenn aber der Mensch bei seiner Ernährung nicht über das Maass des zur Erhaltung der Gesundheit Nöthigen hinausgeht, so wird das Ergebniss kein anderes sein, als dass er seinen Magen und überhaupt sein Allgemeinbefinden in gutem Zustande erhält, viel länger lebt und isst und daher auch viel mehr Lebensmittel konsumirt, als wenn er dem Frass und der Völlerei sich ergeben hätte, das heisst, als wenn er seinen Magen geschwächt, sich unfähig zu genügender Ernährung gemacht und so sein Leben verkürzt hätte. Ebenso verhält es sich auch mit der Geschlechtsliebe. Was will man denn? Doch wohl nicht mehr, als dass der Mensch sich nicht schädlichen Exzessen hingebe, aber auch nicht die Enthaltsamkeit zu einem Punkte treibe, wo sie dem Organismus schädlich ist. So weit es sich um Vermeidung von geschlechtlichen Exzessen handelt, so ist diese Forderung vollkommen berechtigt, und es ist zu hoffen, dass die Menschen derselben immer mehr nachkommen werden, je einsichtiger sie werden. Aber das Ergebniss dieser Einschränkung wird keineswegs eine Verminderung jener Phänomene zur Folge haben, welche man Geschlechtsliebe nennt, sondern vielmehr ihre Vermehrung; sowie auch die Vermeidung der Völlerei die Thätigkeit des Magens nicht vermindert, sondern vermehrt. Wenn man z. B. sagt, ein Mensch, der noch nicht vollkommen entwickelt ist, solle sich des vorzeitigen Liebesgenusses enthalten, so hat man vollkommen Recht, und mit der Zeit werden die Menschen diese Kegel befolgen; wenn die menschlichen Einrichtungen verbessert sein werden, wird die Erziehung nicht mehr die Phantasie vorzeitig anregen und nicht im Gehirne Gedanken hervorrufen, welche dem Körper des Jünglings oder des Mädchens noch nicht entsprechen. Aber der Mensch, der seine Kräfte nicht durch vorzeitige Liebe geschwächt hat, wird in Folge dessen mehr Kraft haben, wenn er das Alter der Reife erreicht und wird diese Kraft länger bewahren. Man hat auch Recht, zu fordern, die Erwachsenen sollten sich nicht im Uebermaasse der Geschlechtsliebe hingeben, aber auch hier wird das Ergebniss kein anderes sein, als eine grössere und länger andauernde Fähigkeit der Liebe. Man verlange die Enthaltsamkeit innerhalb der von der Rücksicht auf die Gesundheit gezogenen Schranken, das entspricht der Vernunft und dem Wohlsein des Menschen, das ist eine durchführbare Forderung, aber ihr Ergebniss ist die Ausdehnung der Rolle, welche die Geschlechtsliebe im menschlichen Leben spielt.“ (pag. 454 u. ff.)

Tschernischewsky sagt es hier selbst, welches die Wirkung einer vernünftigen, naturgemässen Einschränkung der Liebe sein wird: Vermehrung der Liebe. Dies wird denn auch die Folge der Emanzipation der Frau sein. Ist die Frau einmal nicht mehr eine Waare, besitzt sie freie Verfügung über ihre Person, und ist sie zugleich moralisch und intellektuell gebildet genug, um ihre Selbstständigkeit behaupten zu können, so werden allerdings die Ausschweifungen von heutzutage verschwinden; es wird sich auch die Frau nicht dem ersten Besten hingeben, wenn die Ehe keine Versorgungsanstalt mehr ist, sie wird vorsichtig wählen und daher erst im reiferen Alter zur Ehe schreiten. Alles dies wird aber nicht die Zahl der Kinder vermindern, sondern blos dazu beitragen, die Kraft- und Zeugungsfähigkeit möglichst zu entwickeln und möglichst lange zu erhalten; denn der zu grosse und vorzeitige Liebesgenuss sind es, welche diese zu schnellem Verfalle bringen. Bedenke man überdies, dass die eheliche Umarmung durch nichts mehr geboten sein wird, als durch Liebe; das Misstrauen, die Zwietracht, ja die Abneigung, welche das Ehebett heutzutage so oft schänden, werden ihm fern bleiben: muss das nicht Alles dahin wirken, die Liebe und ihre Folgen viel mehr zu verallgemeinern, als es heutzutage der Fall sein wird?

Und dennoch hat Tschernischewsky Recht, die Emanzipation der Frau wird das Bevölkerungsproblem lösen. Nur in anderer Weise, als er es dachte. Wenn nicht nationalökonomische, so werden physiologische Erwägungen, die Schädlichkeit zu schnell sich wiederholender Geburten, die Gefahren der Schwangerschaft, die Schmerzen des Gebärens die freie und über ihren Körper unterrichtete Frau dahinführen, Mittel anzuwenden, um allzuhäufige Empfängnisse zu vermeiden. Nicht die Liebe, wohl aber die Zahl der Geburten wird sich durch die Befreiung der Frau vermindern. Dies, d. h. die Einführung des präventiven Verkehrs, ist die einzige Möglichkeit der Lösung der Bevölkerungsfrage. Weisen wir diesen zurück, dann stehen wir vor der furchtbaren Alternative: entweder der Liebe zu entsagen oder Laster und Elend für unausrottbar zu erklären. Eines ist so entsetzlich wie das Andere. Auch Tschernischewsky hat das klar erkannt. Seine Schüler mögen bedenken, dass er bisher der einzige unter den modernen wissenschaftlichen Sozialisten war, welcher die Möglichkeit einer Uebervölkerung anerkannte, dass er bisher der einzige derselben war, welcher es verschmähte, die harmonievollen Theorien, wonach Alles in der Natur sich von selbst regle, anzunehmen. Er hat blos geglaubt, die Gefahr sei nicht so nahe, als Malthus sie dargestellt.

Darin hat er geirrt, trotzdem er Malthus glänzend widerlegt hat. Er kann seinen Irrthum nicht mehr gut machen, an seinen Schülern liegt es, dies zu thun. Diejenigen seiner Schüler, welche an dem Geiste und nicht an den Ziffern ihres edlen Lehrers hängen, welche erkennen, dass Tschernischewsky das Bevölkerungsgesetz wohl erfasst und nur etwas zu optimistisch beurtheilt hat, welche aber auch erkennen, dass dieser Optimismus durch die Fortschritte der Statistik unhaltbar geworden ist, sie Alle haben die Pflicht, die Grundsätze ihres Lehrers dem Fortschritte der Wissenschaft gemäss anzupassen, an Stelle seines Optismismus die Erkenntniss der Nothwendigkeit des präventiven Verkehrs zu setzen.


Fußnoten

1. Tschernischewsky, l’économie politique, jugée par la science. Bruxelles 1874. I. Pag. 371.

2. l. c., p. 398.

3. In den meisten Staaten etwas mehr. Gerade im Alter von 20–40 Jahren zeigen die Frauen einen Ueberschuss von 4–5 % gegen die Männer. D. V.


Zuletzt aktualisiert am 21. September 2016