Karl Marx

 

An Sigfrid Meyer und August Vogt

(9. April 1870)


Karl Marx, Friedrich Engels, Irland: Insel in Aufruhr, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 211–217.
Transkription: Rosemarie Nünning.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Unter dem Zugesandten findet Ihr auch einige Stück der euch bekannten Resolutions des Generalrats vom 30. Nov. über die irische Amnestie, die von mir ausgingen, ditto ein irisches Pamphlet über die Behandlung der Fenian convicts [eingekerkerten Fenier].

Ich hatte vor, weitere Resolutions einzubringen über die notwendige Verwandlung der jetzigen Union (i. e. Sklaverei Irlands) in a free and equal federation with Great Britain [in einen freien und gleichberechtigten Bund mit Großbritannien]. Der Fortgang dieser Angelegenheit ist einstweilen, as far as public Resolutions go [soweit es öffentliche Resolutionen angeht], suspendiert worden wegen meiner erzwungenen Abwesenheit vom Generalrat. Kein andres Mitglied desselben hat genug Kenntnis der irischen Angelegenheiten und hinreichende Autorität bei den englischen Mitgliedern des Generalrats, um mich hierin ersetzen zu können.

Indes ist die Zeit nicht unbenutzt vorübergegangen, und ich ersuche Euch, dem Folgenden Eure besondre Aufmerksamkeit zu schenken:

Ich bin nach jahrelanger Beschäftigung mit der irischen Frage zu dem Resultat gekommen, daß der entscheidende Schlag gegen die herrschenden Klassen in England (und er ist entscheidend für die Arbeiterbewegung all over the world [der ganzen Welt]) nicht in England, sondern nur in Irland geführt werden kann.

Am 1. Januar 1870 erließ der Generalrat ein geheimes, in französischer Sprache von mir verfaßtes Rundschreiben – {für die Rückwirkung auf England sind nur die französischen, nicht die deutschen Blätter wichtig} – über das Verhältnis des irischen Nationalkampfs zur Emanzipation der Arbeiterklasse und daher über die Stellung, welche die Internationale Assoziation der irischen Frage gegenüber einzunehmen hat.

Ich gebe Euch hier nur ganz kurz die entscheidenden Punkte. Irland ist das bulwark [Bollwerk] der englischen Grundaristokratie. Die Ausbeutung dieses Landes ist nicht nur eine Hauptquelle ihres materiellen Reichtums. Es ist ihre größte moralische Macht. Sie repräsentieren in fact die Herrschaft Englands über Irland. Irland ist daher das grand moyen [große Mittel], wodurch die englische Aristokratie ihre Herrschaft in England selbst erhält.

Andrerseits: Zieht morgen die englische Armee und Polizei aus Irland fort, und Ihr habt sofort an agrarian revolution [eine Agrarrevolution] in Ireland. Der Sturz der englischen Aristokratie in Irland bedingt aber und hat notwendig zur Folge ihren Sturz in England. Damit wäre die Vorbedingung der proletarischen Revolution in England erfüllt. Weil in Irland die Landfrage bis jetzt die ausschließliche Form der sozialen Frage ist, weil sie eine Existenzfrage, eine Frage von Leben oder Tod für die immense Majorität des irischen Volks ist, weil sie zugleich unzertrennlich von der nationalen Frage ist, ist die Vernichtung der englischen Grundaristokratie in Irland eine unendlich leichtere Operation als in England selbst. Ganz abgesehn von dem leidenschaftlicheren und mehr revolutionären Charakter der Irländer als der Engländer. Was die englische Bourgeoisie angeht, so hat sie d’abord [zunächst] mit der englischen Aristokratie das Interesse gemein, Irland in ein bloßes Weideland zu verwandeln, welches for the English market [für den englischen Markt] Fleisch und Wolle zu den möglichst billigen Preisen liefert. Sie hat dasselbe Interesse, die irische Bevölkerung auf eine so geringe Zahl durch eviction [Bezitzwegnahme] und zwangsweise Emigration zu reduzieren, daß englisches Kapital (Pachtkapital) mit „security“ [„Sicherheit“] in diesem Land funktionieren kann. Sie hat dasselbe Interesse in clearing the estate of Ireland [an der Lichtung der Güter in Irland], welches sie in the clearing of the agricultural districts [an der Lichtung der landwirtschaftlichen Bezirke von] England und Scotland hatte. Die 6.000–10.000 £ Absentee- und andrer irischen Revenuen, die jetzt jährlich nach London fließen, sind auch mitzunehmen.

Aber die englische Bourgeoisie hat noch viel wichtigere Interessen in der jetzigen irischen Wirtschaft. Irland liefert durch die beständig zunehmende Konzentration der Pachten beständig sein surplus für den englischen Labour market [Arbeitsmarkt] und drückt dadurch wages [Löhne] und materielle und moralische Position der English Working class herab.

Und das Wichtigste! Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den standard of life [Lebensstandard] herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland, befestigt damit deren Herrschaft über sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich ungefähr zu ihm wie die poor white [armen Weißen] zu den niggers in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. Der Irländer pays him back with interest in his own money [zahlt ihm mit gleicher Münze zurück]. Er sieht zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.

Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Er ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztre ist sich dessen völlig bewußt.

Das Übel hört hier nicht auf. Es wälzt sich über den Ozean fort. Der Antagonismus zwischen Engländern und Irländern ist die geheime Grundlage des Konflikts zwischen United States und England. Er macht jede ernste und aufrichtige Kooperation zwischen den Arbeiterklassen beider Länder unmöglich. Er erlaubt den Regierungen beider Länder, sooft sie es für gut halten, dem sozialen Konflikt die Pointe abzubrechen durch ihr mutual bullying [Aufhetzen] und, in case of need [nötigenfalls], durch Krieg zwischen beiden Ländern.

England, als Metropole des Kapitals, als bis jetzt den Weltmarkt beherrschende Macht, ist einstweilen das wichtigste Land für die Arbeiterrevolution, dazu das einzige Land, wo die materiellen Bedingungen dieser Revolution bis zu einem gewissen Reifegrad entwickelt sind. Die soziale Revolution in England zu beschleunigen, daher der wichtigste Gegenstand der Internationalen Arbeiterassoziation. Das einzige Mittel, sie zu beschleunigen, ist die Unabhängigkeitmachung Irlands. Daher Aufgabe der „International“, überall den Konflikt zwischen England und Irland in den Vordergrund zu stellen, überall für Irland offen Partei zu nehmen. Die spezielle Aufgabe des Zentralrats in London, das Bewußtsein in der englischen Arbeiterklasse wachzurufen, daß die nationale Emanzipation Irlands für sie keine question of abstract justice or humanitarian sentiment [Frage des abstrakten Rechts oder menschenfreundlichen Gefühls] ist, sondern the first condition of their own social emancipation [die erste Bedingung für ihre eigene soziale Befreiung].

Dies ungefähr sind die Hauptpunkte des Rundschreibens, welches dadurch zugleich die raisons d’être [Begründung] der Beschlüsse des Zentralrats über die irische Amnestie gab. Kurz nachher sandte ich einen anonymen heftigen Artikel über die englische Behandlung der Fenians etc. gegen Gladstone etc. in die Internationale (Organ unsres belgischen Zentralkomitees zu Brüssel). Ich klagte darin zugleich die French Republicans an – (die Marseillaise hatte von dem elenden Tallandier dahier dummes Zeug über Irland gedruckt) –, in ihrem nationalen Egoismus alle ihre colères [Wut] für das Empire zu sparen.

Dies zog. Meine Tochter Jenny schrieb als J. Williams (sie nannte sich Jenny Williams im Privatbrief an die Redaktion) [eine] Reihe Artikel an die Marseillaise, publizierte u. a. den Brief von O’Donovan Rossa. Hence immense noise. [Daher der ungeheure Lärm.] Gladstone nach vieljähriger zynischer Weigerung endlich dadurch gezwungen, parlamentarische Enquête über die Behandlung der Fenian prisoners [gefangenen Fenier] zu bewilligen. Sie ist jetzt regular correspondent on Irish affairs [ordentlicher Korrespondent für irische Angelegenheiten] für die Marseillaise. (Dies natürlich ist ein Geheimnis unter uns.) Todesärger der englischen Regierung und Presse, daß die irische Frage jetzt so in Frankreich am Ordre du jour [auf der Tagesordnung] und daß diese Kanaillen nun auf dem ganzen Kontinent via Paris überwacht uns bloßgelegt werden.

Andre Fliege mit derselben Klappe geschlagen. Wir haben die irischen Führer, Pressleute etc. in Dublin so gezwungen, mit uns in Verbindung zu treten, was dem Generalrat bis jetzt mißlungen war!

Ihr habt ein großes Feld in Amerika, um im selben Sinn zu arbeiten. Koalition der deutschen Arbeiter mit den irischen (natürlich auch den englischen und amerikanischen, die darauf eingehn wollen) ist das größte, was Ihr jetzt ins Werk setzen könnt. Dies muß im Namen der „Internationale“ geschehn. Die soziale Bedeutung der irischen Frage muß klargelegt werden.


Zuletzt aktualisiert am 25.9.2011